Mitarbeiterkompetenzen & Digitale Transformation

am Mittwoch, 08 März 2017.

Wofür noch Mitarbeiter? Welche Bereitschaften, Fähig- und Fertigkeiten benötigen sie, zumal selbst Führungsfunktionen zunehmend automatisiert werden?

Nicht zuletzt die Debatte um die Zukunft von Mitarbeitern (Angestellte ohne Führungsaufgabe) angesichts der technologisch getriebenen Ersetzung durch Roboter, Sensoren, Cognitive und Emotional Computing und deren Zusammenspiel im Umkreis von maschinellem Lernen, autonomen Netzwerken und Datenkonglomeraten forciert die Frage zu Status, Existenzlegitimation und Kompetenzen. 

In der VUCA-Digitalwelt brauche es, wird proklamiert, einen „neuen Typus“ von Mitarbeiter, ausgestattet mit einem „neuen mind set“ und einem Repertoire „neuer“ Verhaltensweisen. Das hat u.a. mit der Erkenntnis zu tun, dass Digital Leadership nicht allein in der Verantwortung von Linienverantwortlichen liegt, sondern sich alle (relevanten) Beschäftige daran beteiligen müssen. 

Status Mitarbeiter: 2 Positionen
Pointiert gesprochen, kursieren zwei konträre, ja antagonistische Ansichten: Mitarbeiter sind aufgrund ihres Spektrums an kreativen und sozialen Fähigkeiten zentral und unersetzlich (Akteurstatus) versus Mitarbeiter sind Handlanger technischer und berechneter Vorgaben (Re-Akteurstatus).

Die eine positioniert „den“ Mitarbeiter als Dirigent, Treiber, Akteur. Er ist fachlich, methodisch, mental und sozial hochgradig flexibel, lernbegierig, kompetent und bringt diese Fertigkeiten zum Wohl des Unternehmens ein. Die zweite Ansicht positioniert „den“ Mitarbeiter konträr als Marionette, Getriebenen, Re-Akteur, der in erster Linie verwirklichen muss, was technologisch basierte Vorgaben von ihm verlangen. 

Mitarbeiter als Akteur
Hoch im Kurs steht die erste Auffassung: Der Mitarbeiter gewinnt in der digitalen Welt vernetzten Wirtschaftens an Bedeutung. Digitalisierung und Automatisierung, Industrial Internet (Industrie 4.0), Internet der Dinge, Dienste und Personen, adaptive, selbstlernende Systeme, evolutionäre Robotik sowie Cognitive und Emotional Computing eröffnen neuartige Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen. Die damit verbundenen Chancen sind indes nur realisierbar mit Mitarbeitern, die permanent dazulernen, ein Grundverständnis digitaler Architekturen und Prozedere mitbringen sowie sich rasch auf wechselnde Anforderungen einstellen, selbstverantwortlich, kreativ-disruptiv und kooperativ arbeiten.

Ferner wird hervorgehoben: Eingedenk der Erosion etablierter Strukturen, Prozesse und Unternehmensgrenzen sowie der Zunahme von (vernetzter) Plattformwirtschaft muss sich der Mitarbeiter von traditionellen Zugehörigkeiten verabschieden. Mitarbeiter müssen international, unternehmens- und branchenübergreifend projektspezifisch kollaborieren. Dieser Arbeitsmodus macht es zum Alltag, dass die personelle Zusammensetzung von Teams sowie die Einsatzorte häufig wechseln und nicht nur freie, sondern auch angestellte Mitarbeiter projektbezogen für fremde Unternehmen tätig sind. Insofern benötigen sie in einem besonderen Ausmaß Skills in der Selbst- und Fremdführung (Reflexion, Resilienz, Souveränität, Empathie, geschmeidigen Kommunikationsstil) sowie den Willen und das Können, sich veränderten Gegebenheiten anzupassen und Gelegenheiten effektiv zu nutzen (Kombination von Agilität und Opportunität).

Da zudem (idealiter: disruptive) Innovationen als maßgebliche Erfolgsbedingung für Unternehmen gelten und angenommen wird, nur der Mensch könne schöpferisch sein, sind Mitarbeiter mit der Aufforderung konfrontiert, im disruptiven Sinn unternehmerisch zu agieren und neuartige Produkte, Services, Geschäftsmodelle mitzuentwickeln und zu vertreiben. Eingebettet in ständigen Wandel der Rahmenbedingungen muss der Mitarbeiter daher permanent lernbegeistert, erfinderisch und entschlussfreudig sein, um seine Kreativität kundenorientiert einzubringen und im Einklang mit Unternehmenszielen realisieren.

Kurzum: Fluidität, Netzwerkökonomie, Veränderlichkeit von Grenzen und Strukturen, Routinen und Prozedere, in- und externen Teamzusammenstellungen sowie rasanter Wandel technologischer Optionen gehen einher mit wechselnden sachlichen, kommunikativen und interaktiven Anforderungen (auch) an Mitarbeiter, so dass neben fachlicher Expertise Empathie, Selbstführung, soziale Fertigkeiten und unternehmerisches Handeln im Zeichen von Opportunität und Agilität auch für Angestellte ohne Führungsfunktion zu Schlüsselqualifikationen auswachsen. 

Diese Auffassung vom Mitarbeiter als Akteur drückt die Überzeugung aus, dass ein Unternehmen ohne den initiativen und digital-innovativen, empathischen und kooperativen, mitdenkenden und selbstgesteuerten Angestellten erfolglos sein wird. Denn, so die Überzeugung, auch noch perfekt angelegte Programme können auf die Initiative von Mitarbeitern nicht verzichten, ebenso wenig wie auf deren Aktivität bei Notwendigkeiten zu Abstimmung und Konfliktbehandlung. Spätestens dann, wenn Fehler oder Störungen auftauchen oder das Prozessdesign den praktischen Anforderungen nicht entspricht, wird menschliche Intelligenz, Improvisationscourage und „außerplanmäßiges“ Handeln benötigt. Der Mitarbeitererliegt also nicht maschinellen Imperativen.

(Nebenbei: Dass das Befolgen automatisierter Prozessführung nicht immer ratsam ist bzw. den Vorgaben der menschliche Gehorsam verweigert wird, zeigt etwa der Alltag in IT-Abteilungen. Programme entsprechen keineswegs zwingend menschlicher Arbeitsweise und situativem bzw. kontextuellem Bedarf. Und ebenso wenig leuchten von Programmierern vorgesehene Schritte ausnahmslos jenen ein, die die Schritte befolgen sollen. Das ist ein Grund dafür, weshalb es beispielsweise in Teams, die mit Projektsoftware wie beispielsweise „Agiles Projektmanagement“ arbeiten, trotz Scrum, Sprints, Iterationen, daily news stands und kollaborativer Tools zu Konflikten und mangelnden Anschlussoptionen (und folglich zu Verzögerungen) kommt. 

Zudem goutieren Menschen das reine Befolgen keinesfalls immer, sondern suchen nach Schlupflöchern, die sie eigenmächtig und interessegeleitet stopfen. Dies bedient das Bedürfnis nach selbstgesteuertem Handeln. Häufig deuten Mitarbeiter (vermeintliche) Defizite oder Störungen in Spielräume um. Sie nutzen Abweichungen vom Bedarf, um mit mehr oder weniger Phantasie zu probaten adäquaten Lösungen zu gelangen, ein Defizit zu kompensieren – oder auch, um sich vor einer unangenehmen Aufgabe oder Verbindlichkeit zu drücken.)

Mitarbeiter als Re-Akteur
Mag sein, dass Mitarbeiter als Akteure gebraucht werden. Noch ist das so. Meistens. Nicht immer. Zweifel an der Auffassung von der Schlüsselfunktion von Mitarbeitern gehen einher mit Hinweis auf Praktiken in Fabriken im Industriesektor (z. B. Smart Factory), auf Senioren-, Pflege-,Medizin- und allmählich auch Erziehungseinrichtungen, auf Medienhäuser ebenso wie auf Dienstleister in den Bereichen Finanzen, Versicherungen, Beratung, gar Psychotherapie.

Die Zweifler treffen sich in dem Urteil, der Anfang der Umkehrung sei bereits beobachtbar, im Rahmen von Industrie 4.0, Internet der Dinge, der wachsenden Interaktion von Maschine und Mensch. Betroffen sind nicht allein operative Tätigkeiten, sondern inzwischen auch Entscheidungen und Führung. Technik übernimmt bisher personal gebundene Entscheidungsbefugnisse und erste Führungsfunktionen. Entscheiden und Führen werden auf ihre Funktion reduziert und können daher zunehmend apersonal realisiert werden. 

Stehen schon Führungskräfte als Dirigenten infrage, trifft dies verschärft Mitarbeiter im operativen Geschäft. Ihnen droht die Degradierung bzw. Beschneidung ihrer Aktionsmöglichkeiten auf den Status als Bediener, das Niveau von Marionetten oder Exekutoren.

Die Argumentation dieser skeptischen Position hebt hervor: Der Mitarbeiter reagiert auf das, was Maschinen, Programme, Daten gebieten. Dies gilt übrigens auch für Aus-, Fort-, Weiterbildung und Lernen on-the-job. Ausgestattet mit ausgefeilten individualisierten Lernprogrammen und Gamificationanwendungen, einschließlich 3-D, Wearables, Head Mounted Displays, Augmented Reality etc., gibt Technologie Takt und Inhalte vor, sowohl des Lernens als auch des Arbeitens. Interessanterweise wird diese Lehr-Lernweise als Individualisierung wahrgenommen, die in Aussicht stellt, eigene Talente zu entdecken und Potenziale zu entfalten. Das allerdings ist keineswegs so eindeutig, wie es ausschaut, und trifft ebenso wenig auf jedes Lernprogramm zu. 

Wer den Imperativen der Technologie/ des Games/ der Anwendung nicht folgt, gerät nämlich häufig solange in eine Feedback-, Nudging-, Incentive-, Wiederholungsschleife, bis er es tut. Insofern könnte es sein, dass die viel beschworene Potenzialentfaltung sich nicht ausrichtet an dem persönlichen Möglichkeitsraum, sondern an das projektspezifisch, unternehmerisch-wirtschaftlich geforderte, das technisch übersetzt als Anleitung figuriert, um Potenzialentfaltung einseitig – man kann auch sagen: fokussiert - zu bahnen.  

Wenn auch Programmierer, Designer, Ingenieure, Plattformexperten gerade dabei sind, sich selbst überflüssig zu machen, dank neuronaler Systeme/ Netzwerke und Machine Learning, sind gegenwärtig doch besonders jene Mitarbeiter betroffen, die nicht in kreativen, gestaltenden, strategischen Schlüsselfunktionen arbeiten. 

(Anmerkung: Dass diese skeptische Sicht und Wachsamkeit ebenso fundiert ist wie daran anknüpfende Fragen zur Stellung des Menschen in Arbeit und Gesellschaft, dokumentiert etwa die damit befasste Anzahl an Artikeln in überregionalen Tageszeitungen und Specials in Zeitschriften. Zudem signalisieren Vertreter aus Politik und Wirtschaft, etwa auf internationalen Wirtschaftsgipfeln wie Davos, die Brisanz der Frage, inwiefern der Mensch sich mittelfristig (einige sprechen von 2 (!) Jahren) als tonangebendes Subjekt verteidigen kann, sich demokratisch verfasste Gesellschaften mit einem sich bereits abzeichnenden digitalen Proletariat einer- und andererseits einer (noch nötigen) digitalen Elite halten können. Die mahnenden und besorgten Stimmen stehen Utopien, Stichwort Singularität, entgegen. Das nicht uninteressant, weil solche Fiktionen häufig Anlass zu Forschung und Entwicklung in diese Richtung geben, die immerhin von Personen wie Nick Bostrom und Stephen Hawking als dystopisch beurteilt wird.)

Auf Unternehmen bezogen, mögen einige Beispiele illustrieren, dass die Mahner nicht einfach schwarzmalen. Der Technologiekonzern Hitachi überlässt Programmen in Logistik/ Vertrieb, Entscheidungen zu treffen und Führung zu realisieren. Das japanische Versicherungsunternehmen Fukoku Mutual Life Insurance ersetzt Mitarbeiter in Sachbearbeitung, Schadensbemessung, Leistungsbeurteilung durch künstliche Intelligenz. Watson von IBM erstellt bekanntermaßen Diagnosen und schlägt Therapien vor (u.a.). Der Roboter namens Matilda, entwickelt von Wissenschaftlern der La-Trobe-Universität in Melbourne, ersetzt Mitarbeiter in der Personalabteilung, v.a. im Rekruiting, indem er Bewerbern eine bestimmte Anzahl Fragen stellt, das Minenspiel beim Antworten beobachtet, aufgrund vorhandener Datenberge auswertet und Schlussfolgerungen daraus zieht, während Watson neuerdings gar beim Poker siegt – in beiden Beispielen sind KI & EI vereint am Werk. Dass Kreativität nur dem Menschen zukomme, muss ebenfalls bezweifelt werden wie beispielsweise maschinell hergestellte Gedichte und Malereien zeigen (die viele zwar nicht unbedingt schön, aber auch nicht eindeutig artizfiell hergestellt beurteilten); Journalisten ergreift zunehmende Furcht vor maschinell hergestellten Reportagen und Analysen. Und selbst emotionale Zuwendung deuten Menschen in Maschinen und Roboter hinein, zum einen, sofern ihr Anlitz Menschliches zeigt, zum anderen, sofern Tonlage und Wortwahl als immer gleich freundlich bis zugewandt interpretiert werden. Es gibt Befragungen, in denen eine Mehrheit von Mitarbeitern lieber von einer Maschine als von einem Menschen geführt würde – weil, so die Begründung, die Maschine immer freundlich bleibe, empathisch sei, glaubwürdiger und zuverlässiger. 

Entscheidungen werden vermehrt von Maschinen vorbereitet, formuliert und durchgesetzt. Der Mensch als Kreateur wird zunehmend fraglich; Mitarbeiter der neu ausgerufenen Netzwerk-Unternehmen verlieren sehenden Auges an Autorenschaft von Entscheidungen und Hervorbringungen. Menschen als schöpferische und bestimmende Akteure werden zunächst flankiert und sukzessive als Dirigenten abgelöst, dank selbstlernender,–konfigurierender und –reproduzierender Systeme: „Die Dirigenten können nach Hause gehen, weil die Orchester sie nicht mehr brauchen.“ (Prof. Dr. Andreas Syskas, http://www.leanmagazin.de/lean-blog/entry/lean-living-syskas-sicht-der-dinge/mitarbeiter-4-0.html, 17. Juli 2016)) 

Noch wird die Sicht der skeptischen Position mehrheitlich als defaitistisch oder dystopisch abgewunken. Calm oder Ubiquitous Technology ist ebenso wenig ausgereift wie das vollautonome Lernen und Agieren von Maschinen/ Programmen, und menschliche Interaktion, Koordination, Krisenintervention, Kreativität und innovationsfördernde Kooperation werden noch benötigt. Exakt diese Diagnose stellt Fundament und Legitimation für die Notwendigkeit dar, Listen mit Kompetenzanforderungen anzulegen. 

Kompetenzanforderungen
Eingebettet sind die Anforderungen in ein „mind set“, in ein Bündel von impliziten Vorannahmen und Überzeugungen, wie die Digitalwelt verfasst ist und – deduziert - welche leitenden Grundsatzideen Unternehmen zu realisieren hätten. Hoch im Kurs stehen die Leitvorstellungen Egalisierung und Demokratisierung. Diese gesellschaftspolitischen Konzepte fungieren als Referenzrahmen für die folgende Zusammenstellung an Anforderungen, die in Debatten und Diskursen am häufigsten auftauchen und verwoben sind mit ersten Position: Mitarbeiterperformance ist zentral, und daher müssen Mitarbeiter befähigt werden. (Nebenbei: „Befähigung“ und „Ermöglichung“ ersetzen das bisherige Reden von „Empowerment“. Die Bedeutung ist geblieben.)

Inwiefern die Anforderungen funktional, zielführend, konkret genug formuliert und überprüfbar sind, und was es braucht, um sie in praxi effektiv werden zu lassen, bleibt an dieser Stelle undiskutiert. Diese Fragen, ebenso wie diejenige nach personell-konstitutiven oder -dispositiven, kollektiven, organisationalen Voraussetzungen/ Erfolgsfaktoren und Rahmenbedingungen wird auf einen weiteren Beitrag verschoben. 

In die häufigsten Anforderungskataloge gehen die Beschreibungen ein, die ich den folgenden Kategorien zuordne: 

Selbststeuerung & Lernbereitschaft
Mitarbeiter sollen „durch Persönlichkeit überzeugen“ (man fragt sich, womit andernfalls). Dazu gehören Bereitschaft und Fertigkeit zu kritischer Selbstreflexion – mit dem Ziel, Selbststeuerungskompetenz zu erhöhen und die Passung zwischen Fertigkeiten und Anforderungen laufend zu überprüfen und gegebenenfalls zu optimieren. Mitarbeiter sollen zudem bereit und in der Lage sein, lebenslang zu lernen, Mehrdeutigkeiten (Ambiguitätstoleranz) und Volatilität konstruktiv zu handhaben und im Sinn des Unternehmenserfolgs einzusetzen. 

Selbstbild und Resilienz
Mitarbeiter sollen davon überzeugt sein, dem Club herausragend origineller und kreativer Köpfe zuzugehören. Dieses Selbstwertgefühl und Selbstkonzept, so die Meinung, erleichtert es, eigene Ideen tatsächlich einzubringen, multiperspektivisch zu prüfen und mit Hartnäckigkeit durchzusetzen. Zudem sollen Mitarbeiter ihre innere Stabilität bzw. Biegsamkeit und Widerständigkeit (Resilienz) erhöhen, weil beides helfe, bei Misserfolgen nicht zu verzagen, sondern an Niederlagen und Fehlschlägen zu wachsen: „Hinfallen – Aufstehen – Krönchen zurechtrücken – Umschauen - Weiterlaufen“ als Prinzip.

Empathie und Kommunikation
Mitarbeiter sollen kommunikativ aufgeschlossen und empathisch sein, freimütig Feedback geben, aufmerksam zuhören und Perspektiven anderer einnehmen, um das Arbeiten in heterogenen Teams zu organisieren, Teamspannungen und –sitzungen ebenso wie Konflikte ziel- und lösungsorientiert zu managen. 

Fach-, Methoden-, Tool-, Moderationskompetenz
Mitarbeiter sollen innovationsfreundliche Methoden wie Design Thinking und Kollaborationstools im Rahmen agilen Arbeitens nutzen. Neuerdings werden fachliche Kompetenzen betont und als notwendige Bedingung gehandelt. Liegt sie vor, so die These, tragen Kommunikations- und Kollaborationstools maßgeblich dazu bei, inhaltsbezogenes, sachliches Arbeiten in den Vordergrund zu rücken sowie untereinander eine freundlich-nüchterne, schmucklose, sachlichorientierte Sprache zu pflegen. 

Unternehmertum
Mitarbeiter sollen unternehmerisch, als Unternehmer im Unternehmen, agieren. Jedenfalls jene, die nicht in die Alltagsroutine eingespannt sind, sondern eher kreative, gestalterische, innovative Aufgaben haben oder Ziele im Kontext von Start-up-ähnlicher Funktion verfolgen. Neben den erwähnten Fähig- und Fertigkeiten ist Risikoaffinität unverzichtbar. Denn der Mut zum kalkulierten Risiko geht Hand in Hand mit der Courage, zu experimentieren, Pilotprojekte aufzusetzen und trotz des Wegfalls sicherer Planung souverän zu handeln. Ein unternehmerisch denkender Mitarbeiter verzichtet übrigens auf eine Stellenbeschreibung; denn von ihm wird erwartet, in fluiden organisationalen Strukturen flexibel, adaptiv, zielbewusst handeln zu können. In diesem Bewusstsein, so die Forderung, sollen Mitarbeiter Karriere nicht nur als Aufstieg in eine offizielle Führungsfunktion (Linie) anstreben, sondern fachlich reüssieren, d.h. ihre Energie darauf lenken, die Fach- oder Expertenlaufbahn einzuschlagen, und sich damit arrangieren, Führungsfunktionen als zeitlich befristet, vorrübergehend, je nach Projekt und Expertise wechselnd zu begreifen. 

Das „neue“ Mitarbeiterprofil & HR
Ein erheblicher Teil der Anforderungen, insbesondere rund um Selbstorganisation, -steuerung, -verantwortung sowie soziale Fertigkeiten, wird seit 40 Jahren proklamiert, lediglich mit wechselnder Lautstärke und bisher vorzugsweise an die Adresse von Führungskräften. 

Dass nun Mitarbeiter ohne Führungsaufgabe gefordert werden, bedeutet für HR, Bewährtes mit Neuem zu verknüpfen und Aus-, Weiter-, Fortbildung neu zu kontextuieren: nicht Führung, sondern verantwortungsvolles Beitragen von Experten ist das Vorzeichen der Bemühungen. 

Das Bewährte: Egalisierung und Demokratisierung sind nicht die neue Antwort auf technologische Entwicklungen und vernetzte Arbeitsarchitekturen, sondern verkleiden die spätestens in den 1970ern einsetzende Rhetorik um partizipative Führungsmodelle und Praktik in gesellschaftspolitische Begriffe. Teilnehmen (lassen) und Verantwortung übernehmen (lassen) und so zu führen, dass dies möglich und erfolgreich realisiert wird, ist also keinesfalls eine neuartige Anforderung. 

Das Neue(re) kennzeichnen die Schlagworte: Automatisierung, Computerisierung, Digitalisierung, emotionales und kognitives maschinelles (Selbst-) Lernen, Industrie 4.0 (Machine to Machine), Internet der Dinge bzw. der Dinge, Maschinen & Menschen (Machine to Human), Cyborgisierung, Big & Smart Data, vernetzte (Plattform-) Wirtschaft, branchenübergreifendes Wirtschaften, Arbeiten in Allianzen mit wirtschaftsfremden Institutionen wie Universitäten, Akademien, Forschungseinrichtungen und Beschleunigung kommunikativer Aktionen und netzwerkartiger Verbindungen (z.B. im Rahmen von Industrial Internet oder IoT). 

Die Herausforderung für Human Resources (HR), vor allem für Aus-, Fort-, Weiterbildung, besteht darin, Probates und Tradiertes, das noch aktuell ist (Lernweisen des Menschen, psychologische Gesetzmäßigkeiten u. dgl.), auf die Medienwelt sowie in die Sprache der digital Sozialisierten zu übersetzen und in methodisch-didaktische Konzepte zu gießen, die nachweislich effektiv das erreichen, was sie erreichen sollen. Hier steht das Wie des Vermittelns im Zentrum (nicht das Was).

Neu auszubildende oder zu verstärkende Fähig- und Fertigkeiten (z.B. Grundverständnis digitaler Architekturen) sollten aufgelistet werden, um für sie eine so genannte Lehr-Landschaft zu entwerfen und medial ansprechend und zielgruppengerecht zu inszenieren. Hier steht das Was im Zentrum, das auf Medienkanäle übersetzt und folglich mit dem Wie verbunden wird.

Multimedialität umfasst analoge und digitale Varianten des Lehrens und Lernens, inklusiv der entsprechenden Gerätschaften (Devices, Gadgets), von Kreide über Stift zum Smartphone, vom Drucker über den Kopierer und Scanner zum 3D-Druck. Multimedialität meint auch im Rahmen von Games/ Gamification das Wechseln von Medien, etwa von Brett und Offline zu Konsole und Online, von Standbild bis Bewegtbild, von Schrift über Comic bis Nur-Bild, von Stumm- bis Stimmdarstellung und audiovisueller Präsentationen. 

All diese Ansatzpunkte didaktischer Intervention und Vermittlung sind selbstredend zielgruppen-, funktions-, aufgabenspezifisch aufzubereiten und systematisch zu evaluieren. 

Dass in diesem gesamten Spektrum des Lernens und Lehrens das Material (Inhalte) sowie die Form (Medien) und deren Zusammenspiel didaktisch und pädagogisch erst noch erschlossen werden müssen; dass der Entwicklungsstand aus wissenschaftlicher Sicht noch im Kleinstkindalter verharrt, bedeutet: Sorgfältig und kritisch prüfen, was wie bei wem zu welchem Zweck angewandt werden soll, mit welchem nachhaltigen (!) Ergebnis und welchen weiteren Folgewirkungen zu rechnen ist – und worin genau die Erwartung besteht. Es hilft auch die Frage: Was geschähe, wenn wir XY nicht einsetzten? Oder: Was würde passieren, wenn wir auf XY verzichteten? 

Fazit: Der „neue Typ Mitarbeiter“ wird als notwendiges Agens der Digitalen Transformation und als Komponente von Digital Leadership konzipiert. Dies ist die Antwort auf technologische Entwicklungen und mit ihr einhergehende Auswirkungen auf die Maschine-Mensch-Interaktion. Der Mitarbeiter wird zur Projektionsfläche von Anforderungen, die bisher vorzüglich an Führungskräfte gestellt wurden. Für HR relevant ist, dass sich das inhaltlich Neue(re) auf fachliche und sachliche Skills sowie auf Multimedialität als Modus der Vermittlung (Lehren, Lernen) beschränkt, während die geforderten Metakompetenzen das reife Alter von über 40 Jahren haben.

(Schlüsselbegriffe: Mitarbeiter 4.0, Führung 4.0, Digital Leadership, Digitale Transformation, Zukunftskompetenzen, Mitarbeiterkompetenzen, HR, VUCA)

Passungs-Modell

am Mittwoch, 30 Januar 2019.

Passungsmatrix: Modell für Stellen- und Funktionsbesetzung
Stellen neu zu besetzen, gehört zum unternehmerischen Alltag und ist dennoch keine Trivialität, insbesondere dann nicht, wenn aus dem vorhandenen personellen Pool gewählt werden soll. Ob von außen oder intern: Rekrutierung oder Auswahl von Personen für eine Stelle und Funktion gehört zu den nachhaltigsten Maßnahmen im Unternehmen. Grund genug, um einen Hinweis zu geben, wie sich Fehlbesetzungen zumindest verringern lassen.

Personaler versus apersonaler Ansatz
Die Suche nach Kandidaten beginnt in der Regel mit einem schweifenden Blick über die vorhandenen Personen: „Wer kann das machen?“ Der Fokus liegt auf Personen, die man sucht, und weniger auf Qualifikationen, die benötigt werden. Daher sollten der Frage nach dem Wer zwei Überlegungen vorgeschaltet werden: „Welche Anforderungen definiert die Stelle/Funktion?“ – danach: „Was genau braucht folglich eine Person, die diese Stelle besetzt?“ Erst der dritte Schritt schlägt den Weg zu konkreten Kandidaten ein.

Preis des Personfokus
Der Unterschied in der Vorgehensweise besteht darin, dass der Personenfokus nicht nur den Blick einengt, sondern auch das Anforderungs- und damit das Stellenprofil mehr oder weniger schleichend verändert. Man schaut auf das, was vorhanden ist und nimmt dies als Referenzgröße. Die praktisch zu beobachtende Folge ist, dass das Anforderungs- und Qualifikationsspektrum (sofern es überhaupt ausbuchstabiert wurde) justiert werden. Die gängige Aussage dazu: „Wir müssen gucken, wen wir haben und dann eben die Anforderungen und Aufgaben an das anpassen, was der Mitarbeiter leisten kann.“

Diese Anpassungen verwässern Stellenwert und Wirkmacht der Funktion/Stelle, weil sie sich von dem entfernen, was ursprünglich und mit guten Argumenten mit der Stelle funktional verknüpft war. Eine ursprünglich hoch gehängte, weil für ein Geschäftsmodell erfolgskritische Stelle/ Funktion kann bis in die Bedeutungslosigkeit absinken, während Personen/ Bereiche aus anderen Gefilden der Organisation, die an diesem Geschäftsmodell hängen, sich darum bemühen, die erfolgskritischen Beiträge anderweitig zu realisieren oder zu erhalten. Verwässerungen haben also mehr oder minder improvisierte Kompensationsaktivitäten an anderen Stellen zur Folge, was wiederum Mehrkosten im weitesten Sinn verursacht.

Neben dem Blick auf „das, was wir an Personal haben“, spielen im Dunstkreis des personalen Ansatzes psychologische Aspekte eine ausschlaggebende Rolle, insbesondere Erwägungen, die als Rücksichtnahmen gelten und unter dem Vorzeichen von Konfliktvermeidung stehen. Typischerweise wird der Kreis von Kandidaten auf Aspekte hin befragt wie: Wer ist jetzt mal dran mit einem Wechsel? Wer meldet sich schon länger für einen Wechsel? Wen müssen wir unbedingt halten – und könnten es mit dem Angebot, diese Stelle zu übernehmen? Das Motiv der Vermeidung von Zusatzaufwand und Konflikten offenbaren Formulierungen wie: „Unruhe vermeiden“, „bloß keine neue Baustelle!“ (Selbstschutz), „erstmal die vorhandenen Leute einsetzen, bevor man neue sucht“ (Fürsorge, Förderung, Prostestprophylaxe), „vorhandene Leute kenne ich; da weiß ich, woran ich bin und worauf ich achten muss“ (Annahme von Führungserleichterung).

Zunehmend gesellen sich Überlegungen hinzu, die mit der Stelle selbst nichts zu tun haben, die Auswahl indes durchaus verkomplizieren und zeitlich verzögern. Die Rede ist von mehr oder weniger expliziten Proporzfragen im Rahmen der so genannten politischen und moralischen Korrektheit, z.B. biologisches und soziales Geschlecht, Herkunft, Alter, Zugehörigkeit zu Minder- oder Mehrheiten und dergleichen.

Die genannten Gesichtspunkte des personalen Ansatzes führen vom geforderten Anforderungs-, Qualifikations-, Leistungsprofil der Stelle eher weg. Erfahrungsgemäß führt dieses Vorgehen dazu, dass „um die Person herum gebaut“ wird, also die Funktion, das Stellenprofil der Person angepasst wird, auf Kosten dessen, was „eigentlich“ erforderlich wäre. Diese Praxis der Personalisierung eines Stellenprofils mündet nach einer Weile in die Auffassung, die Person sei „auf dem Posten nicht ersetzbar“. Nun ja, das ist tautologisch. Denn man hat ja die Stelle so gebaut, dass sie zur Person passt. Diese Falle der Personalisierung sollte bestenfalls eine Ausnahme sein. Analog zu Standards leistet der Primat des Anforderungsprofils unternehmerisch überlebenswichtige Unabhängigkeit und Austauschbarkeit von Personen.

Die Erfahrung zeigt, dass ein personzentriertes Zuschneiden ein risikovolles Vorgehen ist, da sich zwischen dem, was die Stelle verlangt, und dem, was die Person bietet, ein Delta auftut und der Beitrag, der ursprünglich mit der Stelle verknüpft wurde, nur eingeschränkt geleistet wird – mit den gerade benannten sowie weiteren Folgen für unternehmerischen Erfolg. Dies gilt in dramatischer Weise für die Besetzung von Schlüsselfunktionen.

Der Personenprimat steht mit der Vernachlässigung der Dimension von Passung von Anforderung und Eignung im Zeichen der Annahme (Überzeugung), die „Performance“ wachse mit der Praxis. Das mag sein – oder auch nicht. Das mit dieser pädagogischen Haltung verbundene Risiko – übrigens für beide Seiten - kann reduziert werden, sobald die Reihenfolge der Suchschritte geändert wird und die Suche dadurch einen veränderten Akzent erhält.

Nutzen des apersonalen Ansatzes
Das Gelingen einer Stellenbesetzung in dem Sinn, dass die Anforderungen erfüllt werden, hängt entscheidend davon ab, dass diese und Passungsfaktoren sorgfältig herausgearbeitet werden, einschließlich der Begründung. Erfordernisse, Anforderungen und persönliche Leistung/ Leistbarkeit müssen in dem spezifischen Umfeld zusammenpassen.

Dies schließt – das wird häufig vernachlässigt – die Prüfung ein, welche Voraussetzungen ein Kandidat mitbringen muss, um in dem Stellenkontext (Umfeld) erfolgreich sein zu können. Der Stellenkontext berührt nicht nur Rahmenbedingungen für operative Sachbeiträge (Infrastruktur, Strukturen, Prozesse), sondern auch persönliche (Optionen zum Lernen und für Selbstwirksamkeit) und soziale (Kommunikation, Interaktion, Kooperation). Etwa die Frage, in welche Art Team der Kandidat hineinkommt. Dieses Zusammenpassen kann bedeuten: Ist ähnlich wie wir und verstärkt das, was uns erfolgreich macht. Oder: Ist anders, kann uns aber prima ergänzen („Synergien stemmen“). Das Repertoire des differenzierten Herausarbeitens von (Schlüssel-) Anforderungen umfasst sachlich-fachliche und methodische, persönliche und soziale Komponenten – und ihre Einbettung bzw. Eingebettetheit in den Stellenkontext.

Im Gegensatz zum personalen Verfahren priorisiert der apersonale Zugang das, was die Stelle (Funktion) erfordert und lenkt den primären Blick auf nötige Kompetenz (Fähigkeit, Potenzial), Performanz (gezeigtes Können, Wissen), Bereitschaft (Motivation, Verantwortungsübernahme). Die Wahrscheinlichkeit einer Fehlbesetzung sinkt, wenn als Ausgangspunkt geprüft wird, was mit der Stelle oder Funktion verknüpft ist und im zweiten Schritt geschaut wird, wer sie ausfüllen könnte.

Passungs-Modell
Ein einfaches, in der Praxis bewährtes Modell hilft auf diesem Weg: das Modell der Passung von Kompetenz, Performanz und Bereitschaften und Anforderungen innerhalb eines spezifischen Um- oder Wirkfeldes.

Anstatt von Modell kann auch von einer regulativen Idee gesprochen werden, die die Aufmerksamkeit lenkt. Die Idee ist simpel: Stellenbesetzungen werden an der Logik von Passung entlang geführt, die sich ihrerseits an den Anforderungen eines neuen oder maßgeblich veränderten Stellenprofils und seinem Umfeld orientiert. Passungsfaktoren sind in die Zukunftsperspektive sowie in die Strategie des Unternehmens eingebettet und liefern den Begründungskontext. Erst danach geht es um die Auswahl von Personen: Wer eignet sich und möchte auch?

Zur näheren Erläuterung für die Praxis können folgende leitende Fragen dienen:

  • Welche Qualifikationen, Bereitschaften (v.a. Lernen und Verantwortung übernehmen), Fertig- und Fähigkeiten (sachlich, fachlich, methodisch, persönlich, sozial), Neigungen benötigen wir im Bereich X für die Funktion (Stelle) Y im Hinblick auf welche Ziele und Zukunftsperspektive?
  • Wer von den vorhandenen Personen kann diese Anforderungen bereits erfüllen?
  •  Wer von den vorhandenen Personen kann welche Anforderungen teilweise erfüllen: welche erfüllen, welche nicht? Wo und worin besteht Unterstützungs-, Schulungs-, Nachbildungsbedarf - in welchem Ausmaß oder Grad?
  • Wer von den vorhandenen Personen hat (aufgrund welcher Indizien) in Bezug auf welche Anforderungen sowohl Neigung als auch Potenzial, das im Unternehmen und mit effektiver Unterstützung (Mentoring, interne, externe Weiterbildung, Coaching) innerhalb in etwa welchen Zeitraums entfaltet werden kann?
  • Wer von den ausgewählten Personen eignet weniger und welche mehr aus welchen Gründen?
  • In Bezug auf welche Funktionen/Stellen benötigen wir neues Personal?

Spezialfall Change Agents
Das Passungs-Modell hilft auch bei der Zuweisung von Funktionen, die nicht in der Linie verankert sein müssen. So im Fall von Wandlungsunterstützern, den Change Agents. Wer im Rahmen von Veränderungsprozessen auf der Suche nach Change Agents ist, profitiert ebenfalls von der Suchumkehr: erst definieren, was ein Change Agent in welchem Umfeld leisten soll, was sein Profil im Wirkumfeld ausmachen muss, um erfolgreich seine Funktion ausüben zu können – und erst dann konkrete Kandidaten erwägen. Da Change Agents insbesondere in sozialdynamischer Hinsicht wirkungsvoll sein müssen, werden die Anmerkungen zum Passungs-Modell um spezielle dafür relevante Punkte ergänzt.

Die Suche nach Change Agents bekommt eine spezielle Drehung, einen besonderen Akzent über die Grundfragen des Modells (Passung von Suchen und Finden) hinaus. Change Agents sind, knapp formuliert, Personen, die den angestrebten Wandel qua Funktion und Rolle (selten in der Linie ausgewiesen) massiv unterstützen und voranbringen. Es kann sich um Führungskräfte handeln oder um Personen, die als informelle Führer bekannt sind. Worauf es entscheidend ankommt, ist, dass sie auf andere Beteiligte und Betroffene prägenden Einfluss haben. Im Vordergrund stehen nicht fachliche Leistungen, sondern persönliche Wirksamkeit im Sinn der Beeinflussung, des Mitziehens und damit der Lokomotions- und Leadingfunktion. Sie werden häufig als charismatisch beschrieben und wirken daher auch transformational: Sie sorgen dafür, dass andere sich engagieren, in die gewünschte Richtung zu arbeiten.

Personen, die als Change Agents eingesetzt werden sollen, müssen nicht nur prägenden Einfluss auf andere Personen und Gruppen haben, sondern sind zudem idealerweise nicht beeinflussbar von jenen, die sich ohne belastbare Argumente gegen die Veränderung stellen. Vielmehr sind Change Agents in der Lage, Gegenwehr aufzunehmen, Widerständler und auch „Neutrale“ einzubinden. Ihre Aufgabe besteht darin, Motivation und Engagement für den Wandel zu erzeugen bzw. hoch zu halten, Opponenten, Gleichgültige und Begeisterte zusammenzubringen und in eine den Wandel nachweislich forcierende Verhaltensdynamik und Zusammenarbeit zu überführen.

Leitende Fragen sind:

  • Wo und wozu genau benötigen wir Change Agents?
  • Wer tut sich wo (egal ob für oder gegen die Veränderung) als informeller Leader hervor?
  • Mit welchen Befugnissen statten wir Change Agents aus? Wo sollen sie wirken (z.B. nur innerhalb einer Gruppe, einer Abteilung, übergreifend in Projektteams)?
  • Welche Personen eignen sich anhand welcher Indizien für die Rolle als Change Agents?
  • Welche davon möchten als Change Agents eingesetzt werden?
  • Sollen Change Agents formell in dieser Rolle inthronisiert werden oder sie informell ausüben?

Die eigentliche Arbeit der Besetzung von Stelle oder Funktion liegt darin, für die Passung von Anforderung und Kompetenz, Performanz, Bereitschaft im speziellen Umfeld zu sorgen. Das bedingt die intensive Beschäftigung mit der Funktion/ Stelle, ihrem Stellenwert, mit personellen Charakteristika und den Wirkoptionen im Handlungsumfeld sowie der nachvollziehbaren Einbettung der Maßnahme.

Purpose und personale Souveränität: ein Spannungsverhältnis

am Donnerstag, 12 November 2020.

Purpose ist in vieler Leute Munde. Tendenz zunehmend, gerade wegen Sars-Cov 2. Warum? Weil im Zuge vermehrter virtueller Arbeit (Homeoffice) die Notwendigkeit virtuellen Führens zugenommen habe. Konsequenterweise ertönt der Appell an Führungskräfte, Mitarbeiter mit der Klammer „Sinn“ zusammenzuhalten und ihnen mehr Orientierung und Freiraum für mehr „Identifikation“ bzw. Entfaltung persönlicher Sinngebungen zu eröffnen. Sinn des Unternehmens und Sinn von Beschäftigten sollen idealiter deckungsgleich sein. „Empathie“ -ein weiterer Containerbegriff – kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, sowohl für private als auch berufliche Situationen und Phasen als auch in der gesamten Kommunikation und Interaktion.

Purpose wird als Lösung und Mittel zugleich gehandelt für größtmögliche Deckung des subjektiven mit dem kollektiven, dem unternehmerischen „höheren Sinn“. Denn nur dies, so das Narrativ, sichere dauerhaft engagierte Mitarbeit und gutes Arbeitsklima.

Die Rede ist bei Purpose von einem Mehr an Sinnhaftigkeit, dem „höheren Sinn und Zweck“ in Begriffen von Nachhaltigkeit, politischer, sozialer, ökologischer und moralischer Correct- und Fairness. Das hat Folgen, und eine Facette dieser Folgen betrifft das Ausmaß, in dem sich personal souveränes Denken und Handeln äußern darf, sofern es abweicht von dem, was ein Purpose offenbar zulässt, ob, als Frage formuliert, Anpassungsdruck wächst – mit zumindest zu einem Teil unerwünschter und zum Purpose konträr laufenden Konsequenzen. Der Blick dieses Beitrags liegt auf diesem Teilaspekt der Gesamtproblematik: Wie kann persönliche Souveränität in Purpose-Organisationen insbesondere dann geäußert werden (Performance), wenn die Äußerung oder Handlung als Abweichung gewertet werden kann?

Der höhere Sinn und Zweck und das höhere Selbst
Purpose bezeichnet den „höheren Sinn & Zweck“ von Organisationen und konstituiert laut Haufe „Organisationen als Orte, an denen Menschen täglich Sinn stiften“, der seinerseits als Ergebnis der „Kombination von eigenen Beiträgen und den damit erzielten Wirkungen verstanden“ wird. „Der Purpose definiert, worin diese Wirkung besteht und welchen Beitrag die Organisation leisten will, um diese zu erzielen. Alles andere wird daran ausgerichtet. Sinnmaximierung statt Gewinnmaximierung, so Purpose-Stiftung.

Zudem werde die Beziehung zwischen Mensch und Organisation „neu definiert“, insofern Purpose Driven Organizations mitarbeiterzentriert seien und dies gelte: „Der Kontrakt zwischen Mensch und Organisation geht weit über den Deal „Arbeitszeit gegen Entlohnung “ hinaus. Er wird zu einer Partnerschaft, bei der Leistung und Beiträge für ein ganzheitliches Paket von Sinn, Einkommens-, Gestaltungs-, und Entwicklungsmöglichkeiten getauscht werden.“ (https://www.haufe.de/personal/hr-management/purpose-driven-organizations-unternehmen-auf-sinnsuche/unternehmen-mit-purpose-agieren-im-oekosystem_80_490902.html). Verantwortungs- statt Kapitaleigentum und Sinn- statt Gewinnmaximierung.

Dazu passt, quasi als flankierende Maßnahme die neueste Konjunktur und Forderung, ein „höheres Selbst“, ein „höheres Bewusstsein“ oder „Awareness“ auszubilden, um „das Beste aus sich herauszuholen“. „über sich selbst hinauszuwachsen“ und dem Sinn des Unternehmens zu dienen, der grosso modo unisono dem Bedeutungshorizont von „Rückbesinnung auf die Menschlichkeit“, „Ganzheitlichkeit“, „universale Gerechtigkeit und Gemeinwohl“ entspringt und damit dem neuesten Ethos in der Tec-Branche im Silicon Valley entspricht (Anne Philippi in der F.A.Z. zu u.a. Ben Tauber: „Zukunft der Tech-Konzerne: Wo lernt das Silicon Valley eine neue Moral?“ vom 16.01.2020 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/wo-lernt-das-silicon-valley-eine-neue-moral-16578673.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2).

Beispiele Purpose-Claims
Auch Unternehmen wollen unter dem Titel „Purpose“ höheren Sinn & Zweck verfolgen. Einige Beispiele bekannter Unternehmen: Thyssen-Krupp referenziert auf Alfred Krupp: „Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein.“ Sanofi nennt sich „Gesundheitsunternehmen, das Menschen bei ihren gesundheitlichen Herausforderungen unterstützt“, als „lebenslanger Begleiter“. Das Polymer-Unternehmen Covestro will mit seinen „Hightechprodukten die Grenzen des Möglichen verschieben, um die Welt ein Stück weit lebenswerter zu machen“. Chemiekonzern BASF verkündet, eine „bessere Lebensqualität für alle“ zu schaffen. SAP bezweckt, „das Leben der Menschen zu verbessern“ Merck, Georg: Unternehmen auf „Sinnsuche“: Von Kapitalisten zu Weltverbesserern? F.A.Z., 11.03.2019, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/kapitalisten-auf-sinnsuche-16080256.html?printPagedArticle=true#void). Und Waschbär will „Ökologie und soziale Verantwortung im Alltag lebbar machen“. Die Beispiele ließen sich langatmig fortsetzen. Sie alle demonstrieren, dass es nicht mehr genügt, betriebs- und volkswirtschaftlich nützlich Beiträge zu leisten, sondern haben als Tenor die Rettung und Verbesserung der Menschheit, aller Menschen, der Welt. Bietet Purpose mit diesem beanspruchten Geltungsraum nicht einen derartig großen Freiraum, dass sich die Frage nach Abweichung und Toleranz, geschweige denn Akzeptanz und Einspeisung in eine Debatte erledigt?

Purpose als Korsett?
Man könnte sagen: Das sind so allgemeine, grobe Formulierungen, da hat man ja alle Freiheiten. Doch so ist es keinesfalls. Denn da sich Purpose-Formulierungen maßgeblich aus weltanschaulichen und ethischen Quellen speisen, gelten sowohl implizite als auch explizite Ge- und Verbote. Purpose ist weniger deskriptiv als präskriptiv, normativ und daher auch sanktionierend wirksam. Auf das Manifeste und Explizite kann man rasch referenzieren, während das Implizite weiteren Deutungsraum lässt. Und damit zu einer besonderen Falle für Abweichung gibt.

Dass Abweichung ein ungebetener Gast ist, zeigen sowohl Regeln bzw. Codices als auch Erfahrungen. Siehe etwa das Schicksal von James Demore bei Google; das Reagieren von Alnatura-Geschäftsführung im Rahmen der Absicht, in Bremen einen Betriebsrat zu installieren; das Einordnen der Krim als russisches Gebiet bei Apple; die Ausladungen von Kabarettisten bzw. kurzfristige Zurückziehen deren Beiträge, der selbst gewalthaften Verhinderung von Vorträgen seitens dem Mainstream entgegenschwimmenden Wissenschaftlern; dem Plädoyer einer Mehrheit von Studenten an der Universität Frankfurt, die dafür stimmen, Literatur aus der Bibliothek zu entfernen, die ihrem eigenen Meinen widerspricht. Was passiert, wenn die persönliche Deutung von Purpose jener der vermeintlichen Hauptströmung ideologisch-moralisch entgegensteht, mussten inzwischen dermaßen zahlreiche Wissenschaftler erfahren, dass sie ein intellectual dark web gegründet haben, auf dem sie sich anonym wissenschaftlich (!) furchtfrei äußern können. Auf Beispiele aus dem ideologischen Umfeld von Trigger Warnungen, Safe Spaces, Cancel Culture sowohl in Geistes-, Sozial-, in Kultur- und selbst in einigen Naturwissenschaften sei an dieser Stelle verzichtet.

In Unternehmen werden, um Purpose-konformes Verhalten zu gewährleisten, Manager in gehobenen Führungspositionen mittels Testverfahren (sogenannte Integritäts- und Persönlichkeitstests) ausgesucht, mit der leitenden Frage: Passen persönliche Wert- und Normfacetten, passt das Denken so zu unserem Purpose, das dieser die Quelle von Werten, Normen, Denken, Fühlen und Handeln der Person ist? Sind die Kandidaten geeignet, um „Purpose-driven People“ im Sinn der Organisation/ des Unternehmens zu sein? Man beachte: Diese Frage mit Rekurs auf kognitive, ethische, motivationale Passung hingestellt und geht über die Anforderung, Purpose-konformen Verhaltens hinaus.

In der Süddeutschen Zeitung vom 16.2.2020: ist zu lesen: Laut Kaiser-Stiftung, die zur US-Gesundheitspolitik forscht, bieten vier von fünf Großbetrieben ihren Belegschaften mittlerweile „Wellness-Programme“, sie reichen von Diabetesvorsorge und Tabakentwöhnung über Trainerstunden im Fitnessstudio bis zu Kursen gegen Übergewicht und Bluthochdruck. Alle Angestellten …. können die Offerten nutzen.“ Allerdings sei das kaum fakultativ zu verstehen; „denn immer mehr Beschäftigte stellen fest, dass sie mitnichten mitmachen können, sondern vielmehr müssen.“ Da locken Unternehmen „mit Geldprämien oder drohen mit Sanktionen, um Mitarbeiter dazu zu bewegen, ihren Lebensstil zu offenbaren, sich regelmäßig vom Betriebsarzt untersuchen zulassen, Kalorien oder Schritte zu zählen. Wieder andere geben gar maximale Blutzuckerwerte oder Taillenweiten vor.“ Als Purpose eignet sich die Zielsetzung laut einer Personalchefin: Mitarbeitern zu helfen, „sich zur bestmöglichen Version ihrer selbst zu entwickeln“.

Purpose als Korsett!
Dieses Beispiel konkretisiert ein Muster: Missachtung personaler Souveränität, sowohl durch Zwang als auch durch eine willkürliche, wenngleich zeitgeistige Wertentscheidung, die absolut wahr bzw. richtig gesetzt, als Norm (Verhaltensvorschrift) und Referenzwert formuliert und genutzt wird und praktische Folgen hat, zunächst für Betroffene, sodann für das Unternehmen. Etwa Homogenität. Homogenität indes beschränkt Kreativität, und der Mangel an beidem schränkt innovative, geschweige disruptiv innovative Leistung(soption)en ein.

Skepsis ist also angebracht. Bei allem vorgeblichen Spielraum ist dieser doch eng gefasst. Da inzwischen immer mehr Unternehmen einen Purpose proklamieren und Anpassung von allen Unternehmensmitgliedern fordern, fällt das konkrete Ausbuchstabieren in Ge- und Verbote, in Verhalten und Handlungen immer häufiger als Angriff auf personale Souveränität aus, d.h. auf die eigenständige Begründbarkeit, Begründung und deren Ausdruck (in Rede und Handlung). Keinesfalls primär unternehmensintern veranlasst, sondern durch empörte moralistische Stakeholder. Während etwa ein Joseph Kaeser sich den so genannten Aktivisten von Fridays for Future opportunistisch andient, begründet Brad Smith von Microsoft nüchtern, warum der Konzern selbstverständlich auch Unternehmen unterstützt, die beispielsweise fossile Energie fördern. In dieser Logik auch das Sozialunternehmen Share: „Teilen für eine bessere Welt“ (Gründer Günter Stricker, Ex-MA von Welternährungsprogramm; Produkte: Seife, Schoko, Wasser) und Ölkonzern Shell: Kooperation beschlossen und verteidigt mit: „Wir helfen Partnern, nachhaltig zu wirtschaften.“

Ein aktuelles Beispiel aus der Politik illustriert sehr konkret, worin das Korsetthafte von Purpose liegt. Leitende Fragen: Was bedeutet das Purpose-Korsett für Äußerungsweisen personaler Souveränität? Was passiert insbesondere bei Abweichung? Was, wenn – wie aktuell geschehen – sich ein vieljähriger Atomkraftgegner von den Grünen zusammentut mit einer Technikhistorikerin, mit Veronika Wendland, die zudem im Vorstand des Pro-Atom-Vereins Nukleria sitzt. Die Kontrahenten haben sich nach einem eskalierten Streit gefunden und einen gemeinsamen Aufruf formuliert, die deutschen AKWs länger als bisher datiert, laufen zu lassen, um rascher aus Kohle und Gas als Energieträger auszusteigen. Frau Wendland stimmen offenkundig nicht wenige Grüne zu, die sich das indes nicht zu sagen getrauen, „weil schon ein einziges Wort für Kernenergie bei dieser Partei zu jähem politischen Ableben führe. Die F.A.S. hat nachgeforscht und innerhalb weniger Tage gleich zwei wichtige Grüne gefunden, auf die das zutrifft: Uran sei zwar schlimm, saget einer von ihnen, der schlimmster aller Stoffe aber sei der Kohlenstoff. „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet“, fügt er hinzu. Öffentlich sagen will er es nicht.“ (Konrad Schuller: Letzte Hoffnung Atomkraft. Zwei Ökoaktivisten wollen die Erderwärmung mit Kernenergie stoppen. Die Grünen stürzt das in Verlegenheit. In: .FA.S. 6.9.2020, S. 16)

Purpose und personal-souveräne Devianz
Pointiert gesprochen: Personal-souveräne Abweichung wird nur zugelassen, soweit sie noch integrierbar ist und ausgeschlossen, soweit die Internalisierung von Purpose mit allen Implikationen ungewiss scheint. Souverän agiert hier, wer Mimikry beherrscht, das perfekte Schauspiel, das So-tun-als-ob. Ist das die neue Kernkompetenz personaler Souveränität? Wie stehen dann Opportunismus und Homogenisierung im Verhältnis zum kreativen Spinnen, zu Anders- und Querdenken und Innovativität? Warum gilt Vielfalt von Unterschiedlichem hier nicht als Leitschnur (wo doch Diversität angeblich Bedingung der Möglichkeit für Erfolg ist)? Etc.

Aufforderung an Weiterbildner und Berater
Differenzieren Sie die drei verschiedenen Kategorien, in denen Purpose wirkt: Purpose in Unternehmen, in NGOs und ähnlichen, nicht gewinnorientierten Organisationen, persönlicher Purpose.

Die gemeinsame Klammer der drei Purpose-Arten kann man darin sehen, dass nicht-positivistische, im weitesten Sinn metaphysische Sphären angerufen werden („das Höhere“); dass diese mit handlungsrelevanten Überzeugungen transportiert werden (z.B. „Welt verbessern“, „Gemeinwohl fördern“, „Gesundheit fördern“, „Nachhaltigkeit leben“) und als Maßstab bzw. Normenset dienen für individuelle Handlungsoptionen. Für den persönlichen und organisatorischen Alltag lässt sich empirisch hinzufügen: Je zeitgeistopportuner ein Purpose formuliert ist, desto weniger ist Abweichung geduldet.

Unternehmen müssen dafür sorgen, dass Klarheit darüber besteht, was noch im Einklang mit dem Purpose steht. Die Negativvariante: „verboten ist“, fällt zu vage aus, da immer mehr unerwünscht ist, das Unerwünschte nicht aufzählbar ist, wohingegen das, was erwünscht ist, formuliert werden kann und damit auch Horizonte des Erwünschten und Tolerablen.
Berater können dabei assistieren, diese Klarheit herzustellen, insofern sie in der Lage sind, nicht gesinnungs-, sondern verantwortungsethisch zu denken und kategorialen, logischen etc. Denkweisen den Vorzug vor wertenden zu geben. „Was sollen/ können wir tun?“ als Leitfrage, und dies referenzieren auf den Purpose. Denn dieser hat nur dann eine Chance auf Glaubwürdigkeit und Entfaltung im Alltag, wenn hinreichend er konkrete Auskünfte über Erwünschtes, Unerwünschtes, Tolerables gibt, eingerahmt in den Horizont dessen, wofür Purpose steht. Neben unternehmensstrategischen, personalpolitischen, organisationalen Komponenten sind auch persönliche Spielräume zu thematisieren.

Vielleicht müssen sich Unternehmen fragen, inwiefern sie auf Kontroversen auslösende Querdenker und Querhandler verzichten wollen, deren Stärke darin besteht, abzuweichen, vertraute Vorannahmen, Logiken, Folgerungen deutlich in Frage zu stellen. Vielleicht müssen sich Unternehmen auch einer Entscheidung stellen: ob sie sich in erster Linie als Wirtschaftsorganisation verstehen und deren Code anwenden, oder in erster Linie als ethische, identitätsstiftende Organisation begreifen. Beide Fragen implizieren grundlegende und strategische Ausrichtungen, die Maßnahmen und Politiken verlangen, die auseinanderlaufen und nur dadurch Überlappungen aufweisen (können), dass die Systemgrenzen erodieren, dass, wie es Wirtschaftsethiker sagen, Wirtschaften immer auch ethisch und politisch ist. In dieser Melange freilich können zwar die Vorzeichen, die Referenzen für Handeln wechseln, und das mag als Chance gelten. Andererseits werden Entscheidungsreferenzen vage, unklar, wolkig, so dass entweder souveränes Handeln freies Spiel hat oder aber, wie es die Praxis zeigt, so weit eingeschränkt wird, dass „eigene Köpfe“ rasch bereit sind, das Unternehmen zu wechseln. Die drei Differenzierungen der bieten einen Rahmen für diese Debatte. 

Purpose – eine neue Mode?

am Freitag, 26 April 2019.

Nun also „Purpose“. Purpose ist „in“. Bringt Purpose grundlegend oder substantiell Neues? Oder ist es nur ein Austausch von Worten?Die gängigen Konzepte wie Vision, Mission, Leitbild, Unternehmens-, Führungsphilosophie genügen offenbar nicht mehr – und mit ihnen scheinen die abgeleiteten Kodizes und Regularien obsolet, die mit obligaten Regelwerken konkretisiert werden wie etwa Corporate Social Responsibility mit Fokus auf der sozialen Verantwortung gegenüber allen Akteuren, mit denen Unternehmen arbeiten, intern und extern. Dies in Kombination mit Environmental, Social and Governance Critieria, die Kriterien vorgeben, an die sich nachhaltige Unternehmensführung bezüglich Umwelt und Soziales messen lassen muss.


Aktuell wird – initiiert vom Entwicklungsministerium der Bundesrepublik Deutschland - an einem gesetzlich zu fixierenden Katalog und Kodex gearbeitet, die (bei Androhung von Bestrafung) gewährleisten sollen, dass Unternehmen über die gesamte Lieferkette Verantwortung übernehmen müssen und personell wie institutionell haftbar gemacht werden können. (Dass diese Haftbarkeit Dinge einschließt, die sich dem Einfluss-, Interventions-, Entscheidungs-, Kontrollbereich von Managern und anderen Unternehmensakteuren entziehen, verdirbt den Gesetzeswerklern die Freude am Fabrizieren nicht.) Die Spanne der Zurechnung umfasst Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Wirkungen des Wirtschaftens auf Person, Region und Soziales, ein eng definiertes Ethos im Umgang mit Menschen und Natur/Ökologie, das sich an den viel zitierten europäischen Werten orientiert (die realpolitisch allerdings divers, weil nationalspezifisch ausgelegt werden). (z.B. http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/grosse-koalition-kanzleramt-will-menschenrechtsbericht-weichspuelen-a-1260737.html von Claus Hecking und Gerald Traufetter 01.04.2019)


Es ist nur konsequent, dass der Unternehmensführung unter ganzheitlich ethischem Vorzeichen ein entsprechendes Investitionsethos hinzugesellt wird. Inzwischen mehren sich die Unternehmen, die sich mit mehr oder weniger Medienpomp aus so genannten schmutzigen und bösen Bereichen wie Kohle- und Ölförderung zurückziehen. Die Bemühungen nachhaltiger Unternehmensführung gewinnen im öffentlichen und vermeintlich investorischen Raum jedenfalls an Glaubwürdigkeit, wenn Investitionsstrategien daran angepasst werden. Dies gilt etwa für das Sustainable, Responsible and Impact-Investing. Die erst genannte Strategie orientiert Investieren an den Kriterien ökologischer und sozialer Verantwortung. Das Impact-Investing strebt darüber hinaus an, „die Welt besser zu machen“ (quasi ökologische und gesellschaftliche Rendite zu erwirtschaften). (z.B. https://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/die-grenzen-nachhaltiger-renditen-16114859.html; https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/faire-loehne-fuer-textilarbeiter-tchibo-fuer-mehr-regulierung-16120384.html am 2.4.2019)


Ethisierung von Wirtschaft
Die moralische Aufladung von Wirtschaften fließt – so scheint es – zunehmend in Anlageentscheidungen ein. Anleger trachten „zunehmend nicht nur nach dem wirtschaftlichen Erfolg…., sondern achten auch auf verantwortungsvolle Unternehmensführung“, und das meint: „unternehmerisches Handeln im Einklang mit Gesetzen, Richtlinien, Kodizes und Satzungen (neudeutsch Compliance) und moralischen Werten“, in dessen Zentrum „Verantwortung gegenüber Mitarbeiter und Gesellschaft, einschließlich Umwelt- und Klimaschutz – zusammenfassend auch Nachhaltigkeit genannt“, einschließlich der Bedürfnisse „aller Interessengruppen (Kunden, Mitarbeiter, Gesellschaft)“. Man sieht, ein bemerkenswert breit gefülltes „Zentrum“. Als Beispiele nennt Willi Schoppen Vermögensverwalter Blackrock, Schweizer Bank UBS und Union Investment, Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken. (Schoppen, Willi: Werte schaffen Wert. In Die Zeit 4.4.2019, S. 29).

Willi Schoppen will die Ethisierung durch das gesamte Unternehmen realisiert sehen, weil Anleger prüften, inwiefern Strategie, „Führungspersonal“ und „Werte“ harmonieren. Die Ethisierung usurpiert inzwischen auch die Persönlichkeit (Personalisierung von Zurechnung gemäß individualistischer Logik) insofern, als die Persönlichkeit von Akteuren durchleuchtet wird, sowohl intellektuell, kognitiv als auch motivational und moralisch: „Gibt die Strategie eine erfolgversprechende Antwort auf zukünftige Herausforderungen in Markt und Wettbewerb? Offenbart der Vorstand vorausschauendes Denken ebenso wie Führungsfähigkeit – und sind die strategischen Ziele mit den Einstellungen und Werten des Unternehmens verknüpft? Ist der Aufsichtsrat divers besetzt, unabhängig und bereit, das Handeln des Vorstands entsprechend den Unternehmenswerten zu hinterfragen? Funktioniert die Nachfolgeplanung? Stellt der Aufsichtsrat sicher, dass der Vorstand systematisch Talente für höchste Führungspositionen entwickelt und dass deren Persönlichkeit den Werten des Unternehmens entspricht? Und gilt das auch für die Nachfolge im Aufsichtsrat selbst?“

Diese Fragen gelten vor allem dem Topmanagement. Ähnlich plakativ ist das Plädoyer, Vorstand und Aufsichtsrat müssten als Vorbilder fungieren. Dass dies wenig durchdacht ist eingedenk des Hohelieds von – beispielsweise - Selbstentfaltung, Selbstverantwortung und Selbstorganisation als zumindest regulative Ideen für die geforderte Mitarbeiterorientierung, sei an dieser Stelle eine Randnotiz.

Dazu passt eine Ausweitung der „Kampfzone“ rund um Compliance (Schütz, Marcel, Richard Beckmann: Ein bisschen geflunkert wird immer. In: FAZ 23.4.2019, S. 18). Die beiden Autoren bewegen sich im Sog etwa von Stefan Kühl, Organisationssoziologe, und Oswald Neuberger, Organisationspsychologe. Letzterer führt etwa in seinem Buch „Mikropolitik“ unter anderem aus, dass es zieldienlich sein kann und für das Überleben einer Organisation notwendig, von offiziellen Regeln abzuweichen, sie zu dehnen, gegen sie zu verstoßen. Exakt hierauf weisen Marcel Schütz und Richard Beckmann ebenfalls hin. Es gibt im Unternehmensalltag Aufgaben, Situationen und Umstände, die es zieldienlich machen, offiziellen Regeln nicht zu folgen und sich an informellen Regeln bzw. Grauzonen zu orientieren oder Neuland im Handeln zu betreten, etwa um den Arbeitsfluss zu garantieren, Innovationen voranbringen, Konflikte zu lösen. Dennoch dominiert eine Compliance-Industrie, deren Geschäftsmodelle nicht nur auf die rechtliche Regeltreue im Verhalten achten, sondern auf Persönlichkeit, charakterliche Dispositionen und Motivationen abstellen, indem sie moralische und psychologische Kategorien abprüfen. So genannte Integritätstests erfreuen sich offenkundig zunehmender Beliebtheit – und mit ihnen die Psychologisierung von Führung. (Dazu siehe mein Buch: „Unternehmen in der Psychofalle“, Business Verlag)


Purpose als Container für Ethos, Anschauungen, Überzeugungen
Purpose als Container für ethische, ideologische, sozioökonomische, soziale, ökologische Überzeugungen und Ambitionen, die das Unternehmen „antreiben“ und als „gutes Unternehmen“ profilieren.

Purpose wird nicht einfach als notwendige Bedingung für unternehmerischen Erfolg verpackt, sondern spielt in metaphysischen Sphären. Fabuliert wird von einem „höheren Sinn und Zweck“ des Unternehmens. Adressaten und Nutznießer gleichermaßen sind – wie bisher auch - Stakeholder aller Provenienz, Gesellschaft, Umwelt und Natur – also der gesamte Lebensraum. Purpose verspricht – siehe oben -, einen Beitrag zu einer „besseren Welt“ zu leisten. Das umschließt – siehe oben - alle möglichen Facetten, von individuellem Wohlbefinden der Mitarbeiter über so genannt gerechte oder faire Arbeitskonditionen bis zu ökologisch verträglicher und friedensstiftender Entwicklung, Produktion, Logistik, Wartung und Services aller Art.

Purpose verkündet nicht nur die Daseinsberechtigung eines Unternehmens, sondern vereint individuelle, kollektive, unternehmerische und gesellschaftliche, wahlweise globale Interessen. Antworten auf die Frage: „Wozu gibt es dieses Unternehmen? Wozu ist es da?“ überschreiten den betriebs- und gar volkwirtschaftlichen Wirkungsraum. Purpose wird weltanschaulich, zeitgeistharmonisch und normativ eingebettet und ist expansiv.

Nach innen markiert Purpose eine semantische Klammer und übernimmt Funktionen von Leitbild, Vision, Mission, Sinn. Wie sie dient Purpose als Referenz für sämtliche unternehmerischen Aktivitäten. Insofern kann Purpose als Amalgam von Bekanntem gelten, als Alternativ- oder Sammelbegriff, als funktionales Äquivalent.

Wer mehr in dem Begriff erkennen will als einen Austausch von Worten, der stilisiert Purpose zu einem (noch dazu disruptiven) „Narrativ“. Purpose rücke in den Vordergrund, was bisherige Konzepte vernachlässigt bzw. ignorierten, nämlich die „Verantwortung“ von Unternehmen, „diese Welt besser zu machen“. Unternehmen gelten nicht (mehr) primär als wirtschaftliche, sondern als politisch-soziale Organisationen mit aktivistischem Anspruch, die sich zunehmend in erster Linie moralisch beweisen müssen. Dies wird (folgerichtig, wenn rückgebunden an die gesamtgesellschaftliche Verantwortungszuschreibung für Nachhaltigkeit) als „Verpflichtung“ etikettiert. Diese wird derartig ernst genommen, dass es offenkundig erste Unternehmen, etwa SAP im Jahr 2018, gibt, die einen „Head of Purpose“ suchen und jedenfalls mit ihrem Purpose werben, etwa Siemens, Coca-Cola, IT- Unternehmen wie SAP, Google & Co, Konzerne wie Blackrock aus der Finanzwirtschaft, sogar Tschibo, Kaffee- und Textilhersteller.


Woher der Hype?
Ins Rollen brachte die Purpose-Lawine, so die Erzählung, CEO Larry Fink von der Vermögensverwaltung Blackrock. In einem Neujahrsbrief von 2018 kündigte er an, Blackrock mache Investitionen abhängig davon, inwiefern Unternehmen neben der Profitmaximierung einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Angeblich folgten daraufhin Medienberichte, Positionierungen von Unternehmen, Konferenzen mit Purpose-Slots (https://www.golem.de/news/purpose-generation-why-arbeiten-mit-sinn-und-zweck-1902-138860.html Generation Why - Arbeiten mit Sinn und Zweck, Artikel von Sebastian Gluschak veröffentlicht am 26. Februar 2019). Eine von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung initiierte Nachfrage bei den 30 Dax-Konzernen bestätigt die Popularität. Auf die Frage, wie sie es mit Purpose hielten, nutzen über „zwei Drittel die Vokabel nach innen wie nach außen und wetteifern im Übrigen darum, wer als erster auf den Zug aufgesprungen ist.“ (Merck, Georg: Unternehmen auf „Sinnsuche“: Von Kapitalisten zu Weltverbesserern? F.A.Z., 11.03.2019, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/kapitalisten-auf-sinnsuche-16080256.html?printPagedArticle=true#void).

Die Vermutung liegt nahe, die Purpose-Rhetorik als Reaktion auf in Wellen wiederkehrende Proteste gegen „die Finanzindustrie“, „kapitalistische Gier“, „rücksichtslose Unternehmen“ und andere gesellschaftliche Trends (mehr Gerechtigkeit, mehr Gleichheit in der Vermögensverteilung etc.) zu verstehen, die alles Wirtschaften, das nicht mit dem Vorzeichen „sozial, ökologisch, gerecht“ etikettiert ist, moralisch abzuwerten. Um im vermeintlichen Mainstream mitzuschwimmen und vermeintlich Gefahr für unternehmerischen Erfolg abzuwenden, fordern Topführungskräfte „gar eine „Kehrtwende des Kapitalismus“ bzw. „eine „neue Ära der Verantwortung““ (Merck ebd.).

Nach Jahren eines anderen Hypes, dem des „Shareholder Value“, nach Finanzkrise und aktuell abebbender Konjunktur hofieren Unternehmen den heterogenen Kreis der „Stakeholder“ (z.B. Mitarbeiter, Eigentümer/ Aktionäre, Interessenvertreter wie Gewerkschaften und NGOs, Partner, Zulieferer, Bewerber, Kunden). Dieser Kehrtwende entspricht das Ansinnen, das Augenmerk von kurzfristigen Börsenwertungen ab- und langfristigen bzw. nachhaltigen zuzuwenden - alles im Namen eines umfassenden Gemeinwohls. So kommt es denn dazu, dass etwa der Siemenschef einen „inklusiven Kapitalismus“ propagiert, der Unternehmen verpflichte, „ zum Wohlergehen und Fortschritt der Gesellschaft“ beizutragen und „der Gesellschaft zu dienen“ (Merck a.a.O.).


Verheißung von Konvergenz und Harmonie
„Purpose-driven“ Unternehmen versprechen, zusammenzubringen, was strukturelle Unterschiede hat. Das Harmonisierungs- oder Konvergenzversprechen umfasst Interessen der Stakeholder und Shareholder, Umwelt (Fauna, Flora, Ressourcen) und Gesellschaft. Purpose erweitert das Verständnis der bisherigen Corporate Social Responsibility nach innen und außen auf Kultur, Politik, Natur, Klima, Weltgeschehen. Inwiefern dieser Mischmasch verschiedener Systemcodes im Wirtschaften praktikabel ist und dem Unternehmenserfolg tatsächlich (nachweislich) auf Dauer hilft, kann empirische Wissenschaft noch nicht beantworten. Wieder einmal wird Faktenkenntnis durch Glauben oder schlicht dadurch ersetzt, dass unwissenschaftlichen „Studien“ (häufig aus der Beraterbranche) Evidenzbasierung angedichtet wird.

Doch Glaube versetzt Berge, und ein voll besetzter Chor wird gehört. In diesem Chor nicht mitzusingen, wagen sich offenbar bestenfalls Organisationen, die sich um ihr Bestehen keine Sorgen machen müssen, weil sie beispielsweise lebensnötige Produkte/ Services anbieten, die keine existenzbedrohende Konkurrenz haben, zu denen es kaum oder keine Alternativen gibt oder die keinen direkten Kundenkontakt haben wie etwa Rückversicherer. „Die Rückversicherer sparen sich den „Purpose“-Zirkus, haben aber auch keinen direkten Kundenkontakt, und der Chef dort trägt noch Krawatte. Ansonsten gebärden sich Manager, als wollten sie vor allem die Welt oder zumindest das Klima retten. Coca-Cola-Chefs treten schon länger so auf, als wären sie in Wirklichkeit Aktivisten des Kinderschutzbundes mit dem Hobby, die Regenwälder aufzuforsten. Ihr eigentliches Produkt, die schwarze Zuckerbrause, fällt da glatt hinten runter. Wie auch Google angeblich kein anderes Ziel hat, als das Wissen der Welt der gesamten Menschheit zugänglich zu machen.“ (Merck, a.a.O.)


Wird es ernst mit der all-inclusive-Verantwortlichkeit?
Inwiefern sich Unternehmen dieser Allinklusivität von Verantwortung auch justiziabel verpflichten wollen, ist durchaus fraglich. Die umgreifende und das Wirtschaftssystem transzendierende Verantwortlichkeit von Unternehmen hat nämlich durchaus Unerwünschtes und praktisch nicht Leistbares im Gepäck. Dies mag man exemplarisch an den Argumenten ablesen, die angeführt werden, um sich gegen offizielle Auflagen zu wehren, etwa der zunehmenden Instrumentalisierung von Unternehmen für politische Zwecke. Sichtbar neuerdings an dem erwähnten Gesetzesentwurf, Unternehmen haftbar zu machen dafür, dass sämtliche Wirtschaftsakteure im Rahmen der Lieferkette politisch und ideologisch vorgegebene ethisch fundierte Normennormativer einzuhalten. Diese Gesetzesinitiative stößt auf breitere Ablehnung in Wirtschaftskreisen, nicht zuletzt, weil weder Kontrollierbarkeit noch Zugriffsbefugnisse negiert werden und Manager für etwas haftbar gemacht werden sollen, das sich außerhalb ihrer Möglichkeit befindet. (Schon die simpelste Definition von Zielen stellt darauf ab, dass eine Person/ ein Team „maßgeblichen“ Einfluss auf Zielerreichung haben muss, um das Engagement für ein Ziel bewerten zu können.)

„Aber keine Frage, ohne „Purpose“ geht es nicht. Ob bei Henkel mit seinem Klebstoff, bei Continental mit den Bremsen oder RWE mit dem Strom – stets wird ein höherer Sinn mitgeliefert. Thyssen-Krupp holt gar Ahnherr Alfred Krupp hervor: „Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein.“ Der Pharmakonzern Merck preist sich als Diener am medizinischen Fortschritt, Adidas als Förderer der Gesundheit: „Durch Sport das Leben verändern“, heißt in Herzogenaurach der „Purpose“. Schwerer haben es Konzerne mit weniger ansehnlichen Produkten. Wie sollen Rohstoff-, Röhren- oder Chemieproduzenten die Welt beglücken? Auch das gelingt, wie die Bayer-Abspaltung Covestro beweist. Der Frischling im Dax hat noch am Tag der Gründung seinen „Purpose“ festgelegt: „Wir wollen die Welt lebenswerter machen.“ Polymere sind eine feine Sache, gewiss, und der Chemiekonzern BASF preist sich schließlich auch dafür, eine „bessere Lebensqualität für alle“ zu schaffen. Selbst der Lufthansa genügt es nicht mehr, Leute von A nach B zu fliegen. Nein, der wahre „Purpose“ besteht darin, „die Länder Europas miteinander zu verbinden und Europa mit der Welt“. Insofern ist es logisch, dass SAP, der wertvollste Konzern im Land, als Sinn des Daseins niemals angeben würde, möglichst viel Geld mit Software zu verdienen. Nein, Sie ahnen es, Zweck des SAP-Konzerns ist es, „das Leben der Menschen zu verbessern“(Merck a.a.O.).

Die Frage nach der Glaubwürdigkeit steht dennoch im Raum, wenn sich Konzerne Weltverbessertum auf die Fahne schreiben. Warum also nicht konzedieren: Purpose dient der Aufwertung des eigenen Images, der Verbesserung der Reputation, der Attraktivität als Arbeitgeber, der Erhöhung von Absatz und Unternehmenserfolg. Purpose ist Mittel zum Zweck, ist ein unternehmerisches Instrument oder „Tool“, um langlebige Erfolgswahrscheinlichkeit in Aussicht zu stellen. In der Verfolgung dieses unternehmerischen Primärziels bemühen sich Unternehmen darum, betriebs- und volkswirtschaftliche, ökologische und am Gemeinwohl entlang laufende Parameter einzubeziehen und insofern verantwortungsvoll „der Gesellschaft zu dienen“. (ebd.)


Mischmasch von Systemcodes
Der Verweis auf den primären Zweck von Wirtschaftsunternehmen, Gewinne zu erwirtschaften, die via Investitionen, Spenden, Stiftungen gemeinwohlbezogene Aktivitäten erst ermöglichen, stößt auf Naserümpfen und muss sich vorhalten lassen, „kalt“, „rücksichtslos“, „reduktionistisch“ zu sein und das alles nur deshalb zu tun, um mehr Gewinn zu machen. Ja, bitte, wozu sind Unternehmen als wirtschaftliche Organisationen denn sonst da?

Ein Hauptproblem liegt in der Perforierung ehemaliger Systemgrenzen. Politik, Ideologie, Moral wandern in Unternehmen nicht nur hinein, sondern sind gleichsam zu Codeergänzungen im Wirtschaftssystem geworden. Nicht mehr Zahlung/Nichtzahlung stehen im Zentrum, sondern weltanschauliche Trends, politische Agenden und individuelle bzw. kollektive Befindlichkeiten formieren sich zu entscheidungsrelevanten Größen und bestimmen die Erfolgsaussichten von Unternehmen maßgeblich mit. In welchem Ausmaß, kann nicht angegeben werden. Da diese Beziehung indes nicht nur als Koinzidenz oder Korrelation, sondern als kausaler Zusammenhang gedeutet wird, scheint es, dass Unternehmen auf Purpose-Marketing nicht verzichten können bzw. wollen, um für Bewerber, Kunden, Mitarbeiter, Investoren etc. attraktiv zu bleiben.


Purpose als Geschäftsmodell von Beratern
Aus Lernpsychologie und Neuropsychologie ist seit Jahrzehnten empirisch validiert, dass das Wiederholen einer Botschaft dazu geeignet ist, ihr Wahrheitsgehalt zu verschaffen. Nicht zuletzt aus eigenem Interesse profitiert die Beraterbranche davon besonders. Sie forciert den Hype und preist Purpose als etwas revolutionär Neues, das erfolgskritischen Stellenwert für Unternehmen hat. Abgesehen davon, dass der Nachweis fehlt (er wird nur angenommen vor dem Hintergrund, dass Unternehmen seit langem via Vision, Mission, Leitbilder als sinnstiftende Elemente dienen und so genannte höhere Ziele propagieren), sei beispielhaft vorgeführt, wie wolkig das begründet wird. Angeblich hätten „Leitbilder“ und damit verbundene Claims ausgedient; denn sie seien formelhaft, hohl, nichtssagend und austauschbar, da das Besondere des Unternehmens nicht zum Ausdruck komme. So solle man, empfiehlt etwa Anne M. Schüller, verzichten auf Formeln wie: „Wir sind der Technologievorreiter unserer Branche“; stattdessen möge man zugreifen bei Formulierungen wie von Amazon, das nicht das größte Verkaufsportal sein wolle, sondern „die höchste Kundenzufriedenheit der Welt“ anstrebe. Oder Tesla: „treibt den Übergang zu nachhaltiger Energie voran“ oder der Konferenzanbieter TED, der „wertvolle Ideen verbreiten“ wolle (Zitate: Schüller, Anne M.: Unternehmen rund machen. In: ManagerSeminare, Heft 253, April 2019, 33-38). Inwiefern diese Proklamationen weniger formelhaft und austauschbar sein sollen, bleibt rätselhaft.

Um Purpose glaubwürdig und dann noch als Novität zu transportieren, genügt Marketingrhetorik nicht. Anhänger dieser Welle unterstreichen vor dem Hintergrund der hohen Nachfrage nach Sinn und Zweck in und von Unternehmen Purpose als unternehmerisches und damit kulturelles Konzept, das Verhalten prägend operationalisiert werden müsse. Dazu braucht es natürlich externe Fachleute, also Berater. Die können an Bewährtes mindestens anknüpfen, etwa an das beliebte Führungsmodell des transformationalen Führen, das bereits bei der Trias Vision, Sinn und Mission gute Dienste leistet. Transformiert werden sollen weiterhin die Mitmacher; nun aber treten zudem weitere Zielgruppen (s.o.) und lebensphilosophische Aspekte in den Vordergrund. Wollen Unternehmen also Purpose glaubwürdig proklamieren, müssen sie ihn konkret in den Alltag einspeisen – und das ist sehr aufwendig, wie beispielsweise Sebastian Gluschak ausführt (a.a.O.).

Dass Purpose sich auf die Synergie der Triade von Vision, Mission, Sinn stützt, machen die primären Funktionen deutlich. Purpose wirkt im Idealfall ins Innere des Unternehmens als Referenzrahmen, der jedem Orientierung und den Rahmen für die Beurteilung eigenen Handelns vorgibt. Wer psychologisch argumentiert, betont (die Hoffnung), dass Purpose zudem einen motivational günstigen Effekt hat: Wer an etwas arbeitet, das er begrüßt, arbeitet gerne und daher mit hohem Engagement, so die Erklärung. Eigenverantwortlich agierende Mitarbeiter kommen idealiter ohne Zielvereinbarungen aus und begnügen sich damit, die Zielrichtung zu erkennen. Sie entnehmen dem Bezugsrahmen jene Parameter, die sie benötigen, um effektiv zum Erfolg beizutragen.

Im Rahmen von Rekruiting wird zudem seit Jahren darauf hingewiesen, dass Kandidaten und Mitarbeiter, die sich mit dem Unternehmenszweck „identifizieren“ auch als Botschafter fungieren. Sie erzählen Gutes und erhöhen dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass sich begehrte Fachkräfte bewerben. Ebenfalls wirken sie als Markenbotschafter und damit Richtung Kunde und also nach außen. Gemäß Haloeffekt strahlt das auf das Unternehmen aus, so dass immer mehr Leute die Produkte und Dienstleistungen abnehmen, das Unternehmen via Empfehlung(smarketing) bekannter machen, was wiederum schlussendlich die Nachfrage erhöht, jedenfalls solange der Purpose glaubwürdig transportiert wird. Das alles mache ein Unternehmen attraktiv, auch für Investoren und andere Geldgeber.

Diesem „Narrativ“ kann man zwar keine deterministische Kausalität zumessen, indes empirische Wirkung zumindest nicht absprechen, besonders spürbar im Negativfall, wenn mit tatkräftiger Unterstützung von Aktivisten Massen mobilisiert werden, um einem Unternehmen zu schaden (Graswurzelbewegung, Flashmobs, Shitstorms, Boykottaufrufe etc.). Unter diesem Vorzeichen wird durchaus plausibel klar, dass Purpose unternehmerisch essentiell ist. Schlussendlich dient es der Umsatz- bzw. Gewinnerzielung und damit dem primären Zweck von Wirtschaftsunternehmen. Purpose, so zitiert Georg Merck den Tübinger Ökonomen Franz W. Wagner, sei eine „raffinierte Strategie, aber alles andere als eine Abkehr vom Kapitalismus“. Vielmehr gilt: „Nur mit der Absicht, Geld zu verdienen, bringt man die Leute nicht dazu, wirklich Geld zu verdienen.“ Um die Leute zu motivieren, brauche es eine gemeinsame Sache, ein Ziel, also einen „Purpose“. „Der wird aber nicht zum eigentlichen Zweck, sondern bleibt immer Mittel zum Zweck“, sagt Wagner. „Der Trick dabei ist: Das Mittel Purpose muss immer als Ziel ausgegeben werden, damit es funktioniert.“ (zit. n. Merck a.a.O.)


Bringt Purpose Neues in diese Welt?
Bringt Purpose etwas Neues, oder ist nur ein Marketingbegriff, der scheinbar Neues transportiert, alte Begrifflichkeit lediglich ersetzt? Mit dem sich die Hoffnung auf neue Attraktivität bzw. Attraktoren verbindet? Ein Begriff, der Image und Reputation eines Unternehmens intern und extern steigern und schlussendlich Kunden und Investoren anlocken soll?

Um etwas Neues zu sein, müsste sich Purpose von bisherigen Varianten und Kriterien nachhaltiger Unternehmensführung und Investitionsstrategie qualitativ unterscheiden, zumindest ein bis dato unberücksichtigtes Moment als tragendes, entscheidendes, wenn man soll will „disruptives“ einbeziehen.

Sollte Purpose kategorial Neues transportieren, ist es tief im Container verborgen.

Rund um „Neues Führen & Arbeiten“

am Donnerstag, 09 November 2017.

Abstract:
Führungsmethoden sind kein Passepartout, sondern müssen sowohl theoretisch konsistent abgeleitet und empirisch validiert werden. In der Praxis kommt es auf Einsatzumfeld & Passung (Konsistenz, Praktikabilität, Leistbarkeit, Anschlussfähigkeit) sowie auf Funktionalität und Zielschwerpunkte an.
Die populäre Probierkultur verführt im Umkreis der Dachbegriffe „Digital Leadership“, „Agilität“, „New Work“, „Ambidextrie“ zum beliebigen Einsatz einer Methode – flankiert von der Reset-Logik digitaler Spiele. Es gilt, siehe oben + Fokus auf Kernakzente oder –ziele einer Methode.

Methoden und Führungspraktiken brauchen Theorie, Passung, Kernziele
Anlass der knappen Darstellung sind vermehrt Fragen danach,

  • welche Rolle Führungstheorien in der modernen Probierkultur haben;
  • was die Schlagwörter New Work, Agiles Führen & Ambidextrie meinen;
  • was in der Praxis an VUCA und VOPA+ bedeutsam ist
  • welche agilen Methoden nützlich und erprobt sind;
  • worauf beim Einsatz zu achten ist.

Methode nach gusto und als Passepartout?
Führungsmethoden werden häufig als Buffet wahrgenommen: Je nach Geschmack – bitte wählen.

Jedoch ist es so einfach nicht; denn das Geschmackserlebnis ist abhängig von zahlreichen Variablen wie Herkunftsland, Modi der Verarbeitung, subjektives Geschmackserlebnis, das wiederum aus Variablen besteht wie Anlass, ästhetisches, soziales Umfeld, persönliche Gestimmtheit etc.. Ein Lebensmittel, das allen in derselben Situation gleichermaßen mundet, ist unwahrscheinlich. Gourmets berücksichtigen dies in ihrem Urteil und ihren Empfehlungen - Berater/Weiterbildner und Praktiker in Personal und Management sollten dies bei Auswahl und Anwendung von Methoden ebenfalls tun.

Eine Methode ist kein Passepartout. Jede ist kontextuiert, steht in einem Ableitungs- und praktischen Passungsverhältnis zu Theorie, Praxis & Praktikabilität.
Ob induktiv, deduktiv oder aus dem Raum dazwischen: Jede Methode steht im Bannkreis bestimmter Vorannahmen und Intentionen und ist in der Realisierung an definierbare Rahmenbedingungen gebunden. Theorie und Praxis gehen Hand in Hand.

Leider wird die ideelle/philosophische/ideologische, wissenschaftlich-theoretische, konzeptionelle und pragmatische Einbettung von Methoden vernachlässigt – und damit wesentliche Voraussetzungen für das gelungene Anwenden in der Praxis.

Das gegenwärtige Pathos des unmittelbaren Mitmachens befördert das Anwenden von Methoden im Geist der Beliebigkeit, geadelt als Methode des Probierens, vor allem im Sinn von Versuch & Irrtum: Machen, Testen, Iterieren, Verbessern und – und das ist das Problematische – dies als „Methode“ generalisiert. Probieren ersetzt gründliches Vor-, Mit-, Nach-, Bedenken. Vorschub leistet die Ideologie der Daten. Big Data provoziert den Ausruf vom Ende der Theorie (zuweilen gar der Strategie) und krönt Empirie (der WW) zur Kaiserin.

Eine der (unternehmerisch schädlichen) Pointen liegt darin, sich um jene theoretisch-sinnhafte Verankerung von Führungsempfehlungen keine Gedanken mehr machen zu müssen, die die Schwelle intuitiver oder emotionaler Plausibilität überschreitet. Es genügt gleichsam das spontane Nicken, das Bauchgefühl. Und da theoretisch abstinente Methoden den Vorzug haben, beliebig anwend- und rasch austauschbar zu sein, kann man eine „Probierkultur probieren“.

Das alles ist Verblendung und zeitigt in der Praxis schädigende Folgen; denn es wird so getan, als ob das Ausprobieren von Methoden mit der Möglichkeit eines Resets einhergeht. Das aber ist falsch. Entgegen dem Neustart in Spielen werden im bloßen Ausprobieren methodischer Praktiken Strukturen, Prozesse und Interaktion(smuster) umgebaut – Veränderungen, die einschneidend sind. Die Erfahrungen in Unternehmen demonstrieren eindrücklich die damit verbundenen Kosten (monetär, motivational, behavioral).

Wird die Auswahl einer Methode hingegen in einen konsistenten Ableitungs- und Passungskontext gestellt, liefert sie ihre Begründung geradewegs mit: Es wird nachvollziehbar, warum gerade diese Methode auserkoren wird.

Theorie liefert Sinnzusammenhänge & eine Systematik widerspruchsfreier Aussagen mit Erklärungs- und Voraussagekraft. Theorie liefert den Humus, Fragen an Daten zu stellen; Theorie ermöglicht ein erkenntnisgeleitetes Suchen nach Muster, kausalen Beziehungen, nach Erklärungen für Vergangenes, Gegenwart und Zukünftiges. Theorie liefert Regel-, Grundsatz-, Paradigmen-, Prinzipien-, Metawissen.

Big-Data-Anhänger begnügen sich mit reiner Empirie, in der Überzeugung, die rechnerisch hergestellten Korrelationen münden in kausal aussagekräftige Cluster, die bestimmte Interventionen und Geschäftsmodelle begründen. Und das theoriefrei. Dass auch sie implizite Annahmen treffen, ist wenig bewusst; denn ohne diese Rahmenannahmen wäre es unmöglich, Daten zu lesen.

Führungstheorien wollen erklären, unter welchen Bedingungen und aus welchen psychologischen, kognitiven, sozialen, wirtschaftlichen Gründen Menschen sich in welcher Weise führen lassen und führen möchten. Führungstheorien möchten Wirkungsbeziehungen bzw. deren Determinanten erkennen. Auf dieser Basis machen sie Voraussagen über Wahrscheinlichkeiten, welche Art des Führungshandelns in welchen Kontexten mit welchen Anforderungen an die Akteure den gewünschten Erfolg verwirklicht.

Auf dieser Grundlage werden Modelle und Methoden erarbeitet, die in Vorschläge an Führungspersonen münden. Modelle und Methoden sind pragmatisch und praktisch orientiert. Modelle abstrahieren von individuell-konkreten Aspekten, um den Horizont der Anwendungsfälle zu bestimmen. Modelle bilden Wirklichkeit nicht ab, sondern stilisieren. Auf diese Weise fokussieren sie, reduzieren Komplexität (durch Absehen individueller Diversität und Vielfalt) und stecken den Horizont sowohl ihrer Gültigkeit als auch ihres Anwendungsraums ab. Das viel gescholtene Menschenbild von Homo Oeconomicus, etwa, ermöglicht andere Interventionen als das der Verhaltensökonomie, das die so genannte Irrationalität bzw. Emotionalität und Moralität des Menschen einspeist und die Folgen der dadurch transportierten Unsicherheiten modellhaft berücksichtigt – und beispielsweise für die Entscheidungsfindung fruchtbar macht.

Eine Methode steht für systematisches, nach Regeln und explizierbaren Annahmen planmäßiges Denken und Handeln, das dem Erreichen von praktischen Zielen dient; Methode ist insofern eine zielbezogene Handlungssystematik. Die kennzeichnet das Wie, den Modus des Vorgehens, ist eine Art Verfahrensanweisung, wie in definierten Bedingungsgefügen konkret vorzugehen ist; es geht um Maßnahmen und Schritte, um ein Ziel zu erreichen. Jede Methode empfiehlt daher spezifische Werkzeuge: Tools.

Begriffsklärung: Digital Leadership, Agilität, New Work
Digital Leadership meint zweierlei: Führen in einem digitalisierten Umfeld & Führen mit digitalen Mitteln, etwa in der Funktion Digital Chief Officers.

Agilität: meint Beweglichkeit in alle Richtungen: eine adaptive Bewegungsmodalität je nach Erfordernis: zurück, zur Seite, nach vorn, zirkulär, spiralförmig. Agilität meint Adaptivität in verschiedenen Nuancen (Adaption/Adaptation, Assimilation, Akkomodation). Im Unterschied zu Flexibilität, die zuvörderst als reaktives Anpassen definiert wird, gilt Agilität als primär initiativ, antizipativ und daher innovativ bis disruptiv.

Ist „agil“ das neue „flexibel“?
Nein. Von Flexibilität wird zunehmen gesprochen dann, wenn es um reaktive Anpassung geht. Flexibel ist also immer eine konkrete Antwort auf konkrete Entwicklung. Flexibilität schließt ein: Überprüfen bisheriger Vorgehensweisen und deren Korrektur. Flexibilität schließt in Unternehmen ein, Strukturen und Prozeduren zu finden, die situationsunabhängig Anpassungsleistungen zulassen.

Agilität inkludiert dies und wird zudem prospektiv gefasst: Agil ist assoziiert mit Antizipation, Initiative, Innovation und antwortet auch auf das, was sein kann (wahrscheinlich oder möglich ist, sowohl zeitlich als auch inhaltlich).

Das Ideenkonstrukt Agilität gibt es seit den 1950er Jahren (Kybernetik, Systemtheorie). Eine Schlüsselfigur repräsentiert der amerikanische Soziologe Talcott Parsons. Ihm verdanken wir das AGIL-Schema, das zeigt, welche 4 Funktionen ein System und damit auch Unternehmen erfüllen müssen, um überlebensfähig zu bleiben: Adaptation (Reaktion auf Veränderungen im Umfeld), Goal Attainment (Ziele definieren und verfolgen), Kohäsion, Inklusion & Integration und Latency als Fertigkeit, grundlegende Strukturen und Wertmuster aufrechtzuerhalten.

Unter dem Akronym VUCA (US-Military College zur Zeit des 2. Irakkrieges) wird ein Weltbild vertreten, in dem Unberechenbarkeit, Unvorhersehbarkeit, Gesetzlosigkeit vorherrschen, so dass alle Akteure genötigt sind, sich in ihren Bewegungen situativ anzupassen, sich permanent einzuschwingen auf vorgefundene und erwartete wahrscheinliche oder mögliche Bewegung(srichtung)en, verbunden mit dem Ehrgeiz, neue Bewegungen bzw. Entwicklungsrichtungen zu initiieren.

Der paradigmatische Wandel im Denken besteht hierin: Traditionell wird Realität als eher deterministisches, folglich (in Grundzügen) vorhersagbares Geschehen begriffen. In Unternehmen wurde daher Change- und Risikomanagement so betrieben, als hätte man es bekannten Größen und kalkulierbaren Folgewirkungen zu tun: Wandel und Zukunft lassen sich vorhersehen und planen und folglich linear abarbeiten: Plan – Schritte – Ergebnisse gemäß Plan: Ziele als vorweggenommene Ergebnisse. Ab etwa den 1950er Jahren wird das Weltgeschehen als weniger berechenbar, sondern als unvorhersehbar, weil komplex begriffen. Die Schlagworte dazu: Dynamik, Korrelation, Eigengesetzlichkeit (von Teilsystemen), zeit- und ortsversetzte Wirkungen, Zirkularität u.ä.. In der Folge dominiert die Betrachtung des Geschehens als indeterminiert und unberechenbar (graue und schwarze Schwäne), daher nicht planbar. Schlussfolgerung: Überleben ist notwendig an eine „agile“ Anpassungsfähigkeit geknüpft: nicht nur reaktiv (flexibel), sondern zusätzlich mit Blick auf das Gerüstetsein für zukünftige, erwartbare, unerwartbare, wahrscheinliche und mögliche Entwicklungen (prospektiv-adaptativ: antizipativ).

Dementsprechend werden gegenwärtig im Rahmen agilen Führens herausgestellt:

  • Das Arbeiten am System, weniger im System: Fokus liegt darauf, die Selbststeuerungs- und erneuerungsfähigkeit des Systems zu erhöhen, also organisationales Lernen mit Blick auf eine visionierte Gesamtperspektive zu ermöglichen.
  • 5 Aspekte: 1) (hohes) Tempo, kurze Entwicklungszyklen, 2) reaktive und antizipative Anpassungsfähigkeit (inkrementell, disruptiv), 3) Kundenzentriertheit (kurze Entwicklungszyklen mit engen Rückkopplungsschleifen), 4) eine Geisteshaltung prinzipieller Offenheit mit entsprechendem Verhalten
  • Beherrschen agiler Methoden wie Scrum (Agiles Projektmanagement).

Was in die Praxis eingespeist werden sollte, ist zweierlei:

  1. Kontextbewusstsein: Differenzierung in der Anwendung agiler Methoden: sinnvoll vor allem in Unternehmen(sbereichen), die immer schnell reagieren, adaptieren können müssen, (folglich nicht in Bereichen mit hohem Grad an Standardisierung). Empfehlung von Fachleuten: agile Methoden pilotartig einführen (z.B. Ayelt Komus, Prof an Hochschule Koblenz).
  2. Zumutbarkeit: Auf die Belastbarkeit der Akteure achten, da Indizien zunehmen, die agiles Arbeiten kausal mit psychischer Überforderung verbinden. So etwa Prof. Lutz Becker, Hochschule Fresenius in Köln: Zahl ausgebrannter MA nimmt zu, da agile Selbstorganisation zehrt, weil jeder permanent im Alarmzustand ist (RM: das viel zitierte Always on); Freiheit agiler Strukturen verlangt, dass jeder mitdenken, Kritik äußern und annehmen können, ferner entscheiden (Verantwortung übernehmen) muss. Wird zudem, so das Fraunhofer Institut, eine Kultur gepflegt, in der jeder Prozess, jede Handlung, jede Leistung befragt und in Frage gestellt wird, belastet und disstresst das zusätzlich. Zudem zeigen neuere Befragungen, dass sich bis zu einem Dreiviertel von Agilität(sanforderungen) außerordentlich belastet fühlen und, vor allem bei den Jüngeren („Generation Z“) eine Präferenz für klare Strukturen, Prozesse und Ansagen sich entwickelt.
  3. Haltung: Ein Unternehmen muss nicht jede Mode mitmachen, sondern auf (Mega-) Trends reagieren (sie dauern an).
    (Hinweis: Spektakulär etwa der Ansatz „Holacracy“, von dem angenommen wird, dass erdweit zwischen 50 und 300 Unternehmen unterschiedlicher Größe diesen Ansatz, der die gesamte Organisation überzieht (OE), ausprobieren. Onlinehändler Zappos stellte, wie einige andere, das Experiment mit Agilem Projektmanagement ein: zu viele Formalia, da Hierarchie durch Kreise und Rollen ersetzt werden und gleichzeitig Regularien und Autoritäten nötig sind; und zu viel Diskussionsaufwand, der Zeit und Energie bei nicht selten unbefriedigendem Ergebnis benötigt und Motivation, Leistungseinsatz und –niveau verschleudert.)

New Work: Begriff geprägt von dem in Sachsen geborenen, in Österreich aufgewachsenen und in die USA ausgewanderten Sozialphilosophen Frithjof Bergmann (2004).

Im Sinn Frithjof Bergmanns: New Work ist sein Fazit von Überlegungen, wie Arbeit in der digitalisierten vernetzten Welt so gestaltet sein müsste, dass wirtschaftliches Wohlergehen mit individueller Freiheit konvergiert. Daher spielen Werte rund um das Konzept individueller Freiheit, Selbstständigkeit bis Autarkie, Verweben von beruflicher/ tätiger und persönlicher Lebensgestaltung eine zentrale Rolle.

New Work fungiert bei Bergmann als Chiffre für eine Lebensweise, die maßgeblich durch technologische Entwicklungen ermöglicht ist. „Neue Arbeit ist der Versuch, schrittweise dahin zu kommen, dass man in einem immer größeren Maß das tut, was einem entspricht, das tut, für das man eine Begabung hat, das tut, was einem nicht nur persönlich entspricht, sondern auch der Weltanschauung .“ (so Bergmann; Sein.de: AGORA24: Magazin für Ökonomie und Philosophie 2012) Mittels dezentraler Strukturen, kleiner, agiler und computergesteuerter Handwerk-Shops sowie "High-Tech-Eigen-Produktion" von Geräten, Apparaten, Materialien, Maschinen und Herstellungsarten soll es möglich werden, „60 bis 80 Prozent von dem, was wir zum Leben brauchen, selbst herzustellen“, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Die Rückkehr zu der Zeit vor dem Sündenfall ist ein ganz zentraler Teil des Zukunftsbilds, an dem wir arbeiten. Die Ökonomie soll untergeordnet werden, sie soll uns dienen und nebensächlich sein. Bildhaft gesprochen: eine Situation, in der die Fabriken klein werden, in der die Banken und Bürotürme klein werden – auch im Stadtbild. …Das verbinde ich mit folgender Überlegung: Wir haben die Technologie, die es uns ermöglichen könnte, mit sehr wenig Anstrengung, sehr wenigen Ressourcen und sehr geringem Zeitaufwand einen sehr großen Wohlstand zu erzeugen. ….Arbeit ist unendlich. Die Idee, dass uns die Arbeit ausgeht, ist eine Professorenblödheit. ..Was uns ausgeht, ist die alte Arbeit, organisiert in Arbeitsplätzen. Was uns ausgeht, ist Arbeit, die uns jemand anderes sozusagen in die Hände legt. So müssen wir in Zukunft die Arbeit selbst in die Hand nehmen, selbst bestimmen, was wir als Arbeit definieren. … wir können eine Kultur entwickeln – das ist ein Teil des Versuchs der Neuen Arbeit -, in der Menschen weniger arbeiten und mehr freie Zeit haben. Wenn man Arbeit tut, die man wirklich, wirklich will, worin besteht dann der Unterschied zwischen Spiel und Arbeit? Es ist ein Teil meiner Absicht, dass für viele Menschen der begriffliche Unterschied wegfällt.“ (ebd.)

Dieser Sozialphilosophie mit ideologischen Markierungen und einer romantisierten Retrospektive zurück zum Oikos steht ein pragmatisches Verständnis gegenüber, die die Grundidee als Steinbruch benutzt. New Work fungiert hier als Referenzbegriff, leitende oder regulative Idee für die Auswahl von Führungsmethoden und Unternehmenskultur. New Work wird als Hinweis darauf verstanden, dass angesichts der Verwobenheit von technologischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Entwicklungen Unternehmen eine besondere Herausforderung anzunehmen hätten: New Work soll neue Wege von Freiräumen für Kreativität und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit bei der Arbeit bieten, die private und berufliche Lebenstätigkeit verwebt. Daher müssen Unternehmen eine Vereinbarkeit von individuellen Überzeugungen, Präferenzen, Talenten und Zielen mit denen des Unternehmens bieten und auf der Seite des Arbeitsmodus` zeitliche, räumliche und organisatorische Flexibilität bieten. Konkret sind Unternehmen aufgefordert, alles zum Wohl, zur Motivation, zur Bindung und beruflichen wie privaten, persönlichen Entwicklung von Mitarbeitern zu tun. Dazu gehören Work-Life-Balance-Offerten, selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten, demokratisierte Führung (inkl. Erfolgsbeteiligung), Bürokonzepte wie kreative Work-Spaces, Wohlfühl-, Diskussions-, Begegnungsecken etc., das Arbeiten in kleinen agilen Teams. (Kritisch vgl. mein Buch: „Unternehmen in der Psychofalle“.) Seit 2014 wird der New-Work-Award-Preis für zukunftsweisendes Arbeiten im deutschsprachigen Raum verliehen.

Ambidextrie (siehe auch Eintrag August 2017)
Ambidextrie – das Sowohl-Als-auch. Es meint sinngemäß „mit beiden Händen gleichermaßen geschickt“, beidhändig, und wird auch mit dem Begriff des dualen Betriebssystems (Kotter) beschrieben.

Die Idee: Die lukrativen Geschäft(smodelle), die sogenannte Cash Cow oder das Brot-und-Butter-Geschäft weiterbetreiben, auch optimieren, mitsamt den etablierten Prozessen, hierarchischer Top-Down-Struktur. Gleichzeitig sollen (fluide) Strukturen, (dezentrale) Prozesse aufgebaut werden, die in kleinen Einheiten, in agilen Netzwerken eher egalitär organisiert sind und arbeiten, um technologisch basierte Innovationen, gar Disruptionen zu erfinden. Ambidextrie meint ein Sowohl-als-auch, das sich auf Geschäftsbereiche, -modelle, Produkte & Services und auch auf Führung, also auch auf Denkweise („mindset“) und Verhalten/ Handeln bezieht.

Das Sowohl-Als-auch kann unterschiedlich orchestriert werden: parallel, korrelativ; innerhalb einer Organisation oder mit Satelliten etc.. Neben unmittelbar geschäftlichem Erfolg soll ein Organisationsentwicklungsziel gleichsam automatisch mitrealisiert werden: Selbsterneuerungskompetenz. Ambidextre Führung von Unternehmen und Menschen sollte wohlüberlegt inszeniert werden. Zumindest sind begründete Erfolgsbedingungen zu definieren, die unter anderem auch Passung und Leistbarkeit bzw. die Bedingungen der Möglichkeit dazu inkludieren.

Ambidextres Führen wird zwar als neues Paradigma bezeichnet. Das ist es aber nicht, sondern bahnt sich seit den 1950er Jahren seinen Weg. Das Neuartige sind Facetten der technologischen Optionen, Geräte, Verwertungsmöglichkeiten und die hochgradige Eigendynamik, auf die reagiert werden muss. Beidhändig wird insofern seit vielen Jahren geführt, als Führungskräfte umstellen: von traditioneller, auf Hierarchien und Stabilität ausgerichtete Führung auf Führen mit flachen bis gar keinen offiziellen Hierarchien und partizipativen Optionen; seit Jahrzehnten weicht Zentralität zu Gunsten dezentraler, vernetzter Kooperation und demokratisierter Kultur. Das gilt gegenwärtig nicht mehr dominant innerhalb von Unternehmen, sondern bezeichnet eine Kultur von Zusammenarbeit, die sich besonders deutlich auf Plattformen zeigt.

Theoretisch fundiert und praktisch validiert können Unternehmen konstitutive Komponenten in zwei Konzepten finden: Ambidextrie und HRO (Hochzuverlässigkeits-Organisationen, High-Reliability Organisationens: HRO, insbesondere in der Variante von Weick und Sutcliffe). Die Konzepte vereinen das Sowohl-Als-auch (Ambidextres Führen) mit Bereitschaften und Fertigkeiten im psychisch-kognitiven Bereich sowie in der Handhabung von Strukturen und Prozessen. Psychisch-kognitiv: Achtsamkeit, Gegenwärtigkeit, Selbstreflexion (Sich Ertappen bei Voreingenommenheit), bewegliches Denken und Handeln, offener Geist (the attitudeof widom) sowie die Fertigkeit, Ambivalenzen zu erkennen und nicht zu harmonisieren, sondern gezielt dort bestehen zu lassen, wo sie ihre Funktion am besten erfüllen. Strukturen und Prozeduren, einschließlich das Einhalten und Nichteinhalten hierarchischer, zentraler Vorgaben entscheidet sich daran, in welchem Modus sich das Unternehmen bzw. ein Teilbereich befindet (Näheres dazu siehe unten im Blog sowie in einigen meiner Aufsätze und Bücher.)

VUCA & VOPA+
Die Bewährungsprobe in der VUCA-Welt erfüllt am ehesten, so eine führungsmethodische Generalantwort, wer sich VOPA+ zu eigen macht. Auch dies nichts Neues, nur neues Kleid: VOPA+ bringt kategoriale Ordnung in die Führungswelt, insofern sie die 5 wesentlichen Kategorien des Führens, die spätestens seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Favoriten sind, in der Digitalen Transformation als unentbehrlich und basal vorgibt:

VUCA: volatil, ungewiss, komplex, ambigious.
VUCA = Zeitdiagnose mit Folgen für Führung; Akronym entstammt US-Army –College im Rahmen des 2. Irak-Krieg; 2000 von David Freedman im Buch „Corps Business“ beschrieben. VUCA bezieht sich auf die Veränderung der Kriegsführung (traditionell stehen sich Armeen gegenüber vs heute: kleine Gruppen wie Al Quaida, IS, Taliban etc., die unberechenbar in kleinen Einheiten agieren und sich nicht an Kriegsführungsregeln orientieren); Ziel von VUCA: Handlungsfähigkeit sichern und Erfolge in militärischen Konflikten ermöglichen – analog in der Wirtschaftswelt.

  • Das geht einher mit Orientierung an dem, was Soldaten/Mitarbeiter benötigen: Training & Entwicklung, Ausrüstung, Taktiken/Techniken/ Prozeduren, und mit folgenden Voraussetzungen: Agilität & physische Fitness, kulturelle Kenntnis, Vorbereitung via „blended, immersive training“ (RM: blended learning, Gaming mit Ziel Immersion), Fertigkeiten für das 21. Jhdt., vielseitige Verbindungen zu Betroffenen und Beteiligten (Nationen, Regierungen etc.), Befähigung durch „mission command“ (RM: Mission, Sinn).
  • Ausbildung wird groß geschrieben und bezieht sich auf Menschen (Vision & Strategie), Prozesse (Ziele & Planung, inkl. After-Action-Reviews), Tools (personalisiertes, professionelles Lernen))


VOPA+: eine Abkürzung für unternehmenskulturelle Voraussetzungen, Digital Leadership, Agiles Arbeiten & New Work zu realisieren.
Eingebettet in Vertrauenskultur (Vertrauen als Basis zu Menschen und Technologie): Vernetzung (inner-, außerhalb des Unternehmens), Offenheit (open minded, offene Entwicklung), Partizipation (inner-, außerhalb des Unternehmens), Adaptivität (agile Anpassungsfähigkeit in den Facetten Ein-, Anpassung, Voreinstellung bzw. Assimilation, Adaptation, Approximation, Antizipation).
VOPA+ als Generalbasis für Führung = als Version von Digital Leadership: Vernetzung von Menschen über Themen/Produkte – Transparenz in Austausch – Partizipation der Nutzer an Produktdesign – frühestzeitig Signale für Korrekturen (Agilität, Adaptivität), vgl. Haufe: Digital Leadership: Die Kunst der kontinuierlichen Selbststeuerung.

Zu den einschlägigen Methoden in pointierter und kurzer Form siehe Eintrag: November 2016 und Artikel in „Publikationen“. Die Markierung von Kernzielen gibt (u.a.) Anhaltspunkte dafür, in welchen Kontexten sich welche Methode am ehesten empfiehlt.

Sind „Leitsätze guter Führung“ noch zeitgemäß?

am Montag, 17 September 2018.

Die Nachfrage nach „Leitsätzen guter Führung“, an denen sich Führungskräfte orientieren sollen oder können, ist noch immer ausgeprägt.

Das erstaunt insofern, als seit Jahren im Diskursfeld „Demokratisches Führen“ und „Agiles Führen“ das egalitäre Moment hochgehalten und damit „Leitsätze guter Führung“ mit der Adresse „Führungskräfte“ überflüssig würden. Von der hierarchiefreien Führung wird zunehmend als bereits teilweise realisiertes, in jedem Fall nahendes „Projekt“ gesprochen.

Im Zuge der partizipativen, emanzipativen, egalitären, demokratisierenden Führungsphilosophie und –praxis wird konsequenterweise nicht nur von Führungskräften, sondern auch Mitarbeitern Führungskompetenz verlangt. Das Hauptargument stellt darauf ab, dass laterales, kollegiales Führen zunehme und zudem jeder Experte qua Teamführung in Führungsverantwortung gelangen könne. Dieser Tenor ist hörbar insbesondere in Unternehmen oder Unternehmensbereichen, in denen Hierarchiestufen abgebaut werden bzw. die sich zunehmend als Netzwerkorganisation verstehen.

Konvergieren also zentrale Anforderungen, und werden obige „Leitsätze“ an „offizielle“ Führungskräfte obsolet?

Dazu im Folgenden einige erste Überlegungen.

Die Zuschreibung „gut“ wird gemeinhin im Horizont der Frage nach Leitsätzen auf Menschenführung bezogen. Ich erweitere auf „zielführend“ mit dem Fokus auf Verhalten und Handeln, das auf nachhaltigen, tragfähigen Erfolg aus unternehmerischer Sicht setzt.

Anknüpfende Überlegungen müssen Führungsfunktionen im Hinblick auf Erfolgskriterien und das konkrete Umfeld differenzieren, inklusiv Verantwortlichkeit, Zuständigkeit, Befugnis, nötige personale, mentale, kognitive Bereitschaften und Fertigkeiten sowie fachliche und methodische Kompetenzen.

Konvergenz von Anforderungen
Gewünschte Kompetenzen (Fähig-, Fertigkeiten) und Befugnisse von Mitarbeitern im so genannten digitalen Zeitalter umfassen Facetten, die sich mit denen von Führungskräften in einem Ausmaß decken, das die Frage nahelegt, inwiefern es noch Unterschiede gibt.

Peter Drucker, der vielen Personalern und Beratern als Autorität gilt, ebnete die Unterschiede bereits vor gut drei Jahrzehnten ein, indem er meinte, Führung sei auf jeden einzelnen Angestellten verteilt. Heutzutage deuten Etiketten oder Rollenzuschreibungen die Konvergenz an. Führungskräfte und Mitarbeiter werden positioniert in den Rollen Dirigent und Treiber, Akteur und Leader, Prozessgestalter und Moderator, Katalysator und Innovator und gelten gleichermaßen als Vorbereiter für „Disruption“. Führungskräfte wie Mitarbeiter sollen zudem neben personaler Souveränität und Integrität fachliche, methodische, kollaborative/ kooperative und soziale Fertigkeiten beherrschen, die das Unternehmen „weiterbringen“ und sollen bei alldem über das persönliche Wirkumfeld hinausschauen.

Die Argumentation stützt sich auf die vom rasanten Wandel technologischer Optionen getragene Veränderlichkeit von Grenzen und Strukturen, Routinen und Prozedere, von Fähigkeiten und Fertigkeiten, sowohl in Bezug auf personale Anforderungen als auch kollektive Leistungszumutungen. Betroffen sind beide Gruppen. Führungskräfte wie Mitarbeiter sind aufgerufen, in einem Umfeld sich zu bewähren, das sich auszeichnet durch wechselnde sachliche, kognitive, kommunikative und interaktive Anforderungen, erhöhten Bedarf an unternehmerisches Denken und Handeln.

Demnach fallen grundsätzliche Schlüsselqualifikationen zusammen. Die folgende Auswahl versammelt auffällig häufig mündlich und schriftlich genannte Fähig- und Fertigkeiten.

Persönlichkeit und Selbstreflexion
Mitarbeiter wie Führungskräfte sollen durch Persönlichkeit überzeugen. Dazu gehöre insbesondere die Bereitschaft und Fertigkeit zu kritischer Reflexion eigenen Fühlens, Denkens und Verhaltens, um die Selbststeuerung zu erhöhen und die Passung zwischen Fertigkeiten und Anforderungen immer wieder zu überprüfen und zu justieren. Angehörige beider Gruppen sollen integer, souverän, konfliktbereit, hochkooperativ, in Denken, Fühlen, Handeln flexibel, ferner bereit und in der Lage sein, lebenslang zu lernen und damit sowohl sich selbst als auch dem Vorankommen des Unternehmens dienen.

Selbstwertgefühl und Resilienz
Ein positives Selbstwertgefühl (Selbstakzeptanz) und robuste Disstressresistenz gelten als Bedingung der Möglichkeit, selbstsicher aufzutreten, Neues willkommen zu heißen und sozial kompetent zu handeln. Da der Arbeitsalltag auch Erfahrungen des Scheiterns und anders motivierte Enttäuschungen mit sich bringt, sollen die Adressaten an ihrer Resilienz arbeiten, um Scheitern konstruktiv zu deuten und gestärkt aus solchen Erfahrungen hervorzugehen: Betroffene sollen etwa angesichts von Fehlern und Misserfolgen nicht verzagen, sondern an ihnen wachsen: „Hinfallen – Aufstehen – Krönchen zurechtrücken – Weiterlaufen“ als Prinzip.

Empathie und Kommunikation
Mitarbeiter wie Führungskräfte sollen kommunikativ aufgeschlossen und empathisch sein, freimütig Feedback geben und kritisches Feedback willkommen heißen. Sie sollen aufmerksam zuhören und Perspektiven anderer übernehmen, um das Arbeiten im Team auch dann für alle zielführend zu organisieren, wenn die personelle Zusammensetzung sich oft ändert, Teamspannungen auftreten und Konfliktkonstellationen eine lösungs- und zielorientierte Behandlung erfordern.

Kognition und Wissen
Mitarbeiter wie Führungspersonen werden angehalten, sich insbesondere im systemischen Denken zu trainieren und lernoffen zu bleiben. Diese Forderung bezieht sich in der Regel darauf, Zusammenhänge und Muster zu erkennen und zu gewichten, daher in Relationen und Prozessen sowie evidenzbasiert zu denken und zu entscheiden und für die Einordnung „über den Tellerrand“, den unmittelbaren Wirkungskreis (Team, Abteilung etc.) hinauszusehen. Das impliziert, so das Postulat, die fachliche Arbeit in das Wettbewerbsfeld, in technologische Entwicklung(schancen) und andere geschäftsrelevante Umwelten und Entwicklungen einzubetten. Der Horizont ist weit gespannt.

Fach-, Methoden-, Tool-, Moderationskompetenz
Mitarbeiter wie Führungskräfte sind aufgerufen, sich fachlich und methodisch im Rahmen agilen Arbeitens à jour zu halten, digitale Kollaborationstools (z.B. Kanban, Scrum) ebenso zu nutzen wie innovationsfreundliche Methoden (z.B. Design Thinking). Auch das Wissen um Modelle wie Soziokratie, Holakratie und Liquid Leadership wird angemahnt. Beide Gruppen sollen fähig sein, Ambidextrie zu leben, „Digital Leadership“ im Alltag zu realisieren - auch wenn dieses Postulat im Sinn von Führung bisher vorzugsweise an Führungskräfte gerichtet wird. Dass Mitarbeiter dennoch mitgemeint sind, ergibt sich aus den Anforderungen, denen sie genüge leisten sollen. (Eine differenzierte Betrachtung erfolgt in einem anderen Beitrag.)

Das Bestreben, auf formelle personale Führung im tradierten Sinn zu verzichten, verdeutlichen in besonderer und gleichzeitig unterschiedlicher Nuancierung und unterschiedlich engem Regelkorsett die Modelle Holacracy (Brian J. Robertson: Holacracy: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München 2016), Soziokratie (Strauch, Barbara, Annewiek Reijmer: Soziokratie. Kreisstrukturen als Organisationsprinzip zur Stärkung der Mitverantwortung des Einzelnen. München 2018) und Liquid Leadership (http://www.presseportal.de/pm/62822/3428241, Gottlieb Duttweiler Institute GDI, Neuer «GDI Impuls» zu «Liquid Leadership», 13.09.2016). (Dass hier die Funktion „Führung“ beibehalten wird, zeigen die Vorgaben und Regeln. Sie ersetzen personale Führung im tradierten Sinn mehr oder weniger und reklamieren (dennoch) für sich, weitestgehend auf formelle Führung zu verzichten. Dies näher zu beleuchten, ist ebenfalls einem anderen Beitrag vorbehalten.

Unternehmertum
Mitarbeiter und Führungskräfte sollen unternehmerisch denken und handeln. Die übliche Aufzählung der dazu nötigen Bereitschaften und Fertigkeiten erspare ich mir hier – der Blick in ein x-beliebiges Buch zu „moderner“, „guter“, gar „systemischer“ Führung liefert Kataloge. Vernachlässigt wird in den Katalogen häufig ein an Relevanz zunehmender Aspekt, nämlich dass praktisches Unternehmertum eine sachlich-fachlich begründete Risikoaffinität erfordert (neben einem Panoramablick auf bedeutsame Umwelten). Risikoaffinität und Ungewissheitstoleranz sind beispielsweise nötig, um den Modus des Experiments, des Pilots oder des Arbeitens mit Betaversionen mit iterativer (von Kunden inspirierter) Verbesserungslogik im Rahmen innovativer Bestrebungen zu realisieren, auf seine Funktionalität hin zu beurteilen und bei Bewährung auszuweiten. Die ausgreifende systematische Nutzung operiert vor dem Hintergrund, dass lineare Planung (als Vorwegnahme des präzisen Ergebnisses und detaillierten Abarbeitens vorgesehener Schritte) kaum noch möglich ist. Vor diesem Hintergrund gilt es, souverän zu entscheiden. In diesem Umfeld wird auch von Mitarbeitern verlangt, innerhalb ihres Verantwortungsbereichs gleichsam „visionär“ zu denken, eigene Initiativen entsprechend einzuordnen und aufzusetzen.

Der Fokus auf den unternehmerischen Erfolg in einem wandlungsreichen Umfeld gebietet ausgeprägte persönliche Anpassungsbereitschaft in diversen Hinsichten. Stellenbeschreibungen, etwa, sind verpönt (und erzeugen in der Regel Verunsicherung); gefordert werden fluide organisationale Strukturen und Prozesse bis hin zum Modell des Führens auf Zeit sowie fundierte Entscheidungskompetenzen und –befugnisse von allen Beteiligten. Mitarbeitern wird daher nahegelegt, darauf verzichten, die eigene Karriere auf das Hinaufklettern der Führungsleiter auszurichten und stattdessen die Fach-, Expertenlaufbahn einzuschlagen (was, wie empirische Daten zeigen, in hohem Maß verfolgt wird). Führungskräften wird angeraten, ihre Führungsfunktion zunehmend als vorrübergehend zu begreifen – und folglich ebenfalls ein Auge auf die Expertenlaufbahn zu lenken.

Austauschbarkeit von Rollen?
In diesem Rahmen erscheinen Funktionen und Rollen austauschbar. Die Austauschbarkeit formeller Rollen Mitarbeiter/ Führungskraft demonstriert die Praxis dort, wo es kaum oder keine Linienstruktur mehr gibt und Unternehmen als Netzwerke organisiert sind oder, ausgeprägt im Kontext von Plattformwirtschaft, so stark projektorientiert arbeiten, dass die Teams und deren Führung häufigen Wechsel erfahren. Auch dass Unternehmen damit experimentieren, Führungskräfte wählen zu lassen, deutet auf Austauschbarkeit hin, hier semantisch verwoben in Egalisierung. Zu den Insignien der Austauschbarkeit gehört charakteristischerweise eine völlige oder weitestgehend selbstbestimmte und selbstorganisierte Arbeit, soweit sie mit strategischen Zielen harmoniert.

Grob gesprochen arbeiten Führungskräfte und Mitarbeiter in solchen und ähnlichen Kontexten unternehmerisch (jedenfalls der Idee nach). Folglich ist es konsequent, Führung auf prinzipiell alle Schultern zu verteilen und folglich Mitarbeiter mit Führungsanforderungen zu konfrontieren.

Sind „Leitsätze guter Führung“ noch zeitgemäß?
Zur Eingangsfrage: Sind „Leitsätze guter Führung“ im hergebrachten Sinn noch zeitgemäß? Nein und Ja.

Zwar erschöpfen sich Antworten keinesfalls in dieser binären Codierung; Differenzierung und die Erweiterung der Antwortoptionen auf „Jein“ sind angeraten. Die hiesigen ersten Anlaufschritte nehmen die binäre Option. Eine differenzierende Antwort, die Sowohl-Als-auch einbezieht – und damit nötigen Unterscheidungen und Gewichtungen – wird folgen.

Zunächst also im Rahmen des Ja und Neins einige Überlegungen:

Nein aufgrund der hohen Übereinstimmung wesentlicher und zum Teil hinreichender Attribute, die gemeinhin Führungsverantwortung mitbeschreiben und die Überzeugung akzeptiert ist, der Fokus auf personale Eigenschaften, Fähig-, Fertigkeiten und Bereitschaften genüge („Führungspersönlichkeit“).

Nein, wenn die Tendenz zum Abbau von Hierarchien, zur Einebnung von Unterschieden, zu Egalisierung, Gleichberechtigung und Gleichverteilung von Aufgaben, die auch traditionelle Führungsverantwortung betreffen, fortschreitet, Führung zur Wahl gestellt wird (Demokratisierung qua Mehrheitsprinzip), Führung unabhängig von Rang, Verantwortungsbereich, Rolle und Funktionsgewichtung bestimmt und insofern standardisiert wird.

Nein, sofern die Entwicklung einer netzwerkähnlichen, projektorientierten, modular in wechselnden Konfigurationen organisierten (Plattform-) Wirtschafts- und Arbeitsweise zunimmt, Unterschiede bezüglich (Entscheidungs-) Macht und anderer Befugnisse wegfallen. In diesem Zusammenhang wird das Nein verstärkt durch den Glauben daran, dass formale Führung nicht nötig ist und informelle Führung ausreicht. Stichwort: New Work in der polit-philosophischen Fassung von Frithjof Bergmann.

Nein, wenn der Verzicht einhergeht mit der Befähigung aller, nicht nur unternehmerische Sicht einzunehmen, sondern wie Unternehmer zu leben, zu denken und zu handeln. Dazu gehört neben exquisit unternehmerischen Fertigkeiten (mental, behavioral), auf den Zugang zu Informationsquellen und Informationen zu schauen. Wie in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen gibt es auch in der Wirtschaftswelt verschiedene Milieus, Gruppen (Vereine, Kreise, Zirkel), die diskriminieren: unterscheiden. Es gibt ein Innen und ein Außen, es gibt Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, es gibt Kriterien, Optionen und Beschränkungen in Bezug auf den Zugang zu anderen Zirkeln, zu Personen, zu diskutierten Überlegungen und zu Informationen. Milieus und Zirkel wirken notwendig selektiv, ob qua Herkunft, Bildung oder anderer Kriterien (wie z.B. jene, nach denen die Bundesregierung auswählt, welche Unternehmensrepräsentanten bei Staatsbesuchen dabei sind). Unabhängig davon, ob man von „Filz“, „Netzwerk“, „privilegierten“ Personen/ Gruppen, „Beziehungsmanagement“ und Ähnlichem spricht, gemeint ist immer diese in sich vielfältige Selektivität.

Ein Nein bezüglich der „Leitsätze“ muss diese folgenreiche Selektivität einspeisen, sie gewissermaßen aufheben und das gesamte Spektrum jedem geschäftlich relevanten Akteur zugänglich machen bzw. dafür zu sorgen, dass relevantes Wissen fließt. Es geht darum, dass Informationen von A (Person, Kreis), die nur A zugänglich sind, weitergegeben werden, durch Varianten von Repräsentativität oder „Gießkannenmodus“. Kommunikation als Austausch und Vermittlung muss durchlässig sein, um Weitergabe und Verarbeitung sicherzustellen. Das kann eingedenk von Plattform-, Netzwerk-, Projektwirtschaft nicht nur auf das eigene Unternehmen beschränkt bleiben. Strukturell und prozedural muss gewährleistet sein, dass alle für das Geschäft auch nur möglicherweise nützliche Informationen gestreut und verarbeitet werden.

Gemessen an nur schon diesen Überlegungen erscheint es unmöglich, auf Hierarchie und damit auf Führungsleitlinien zu verzichten. Diese müssen – entgegen dem herkömmlichen Diskurs – positionell und funktionell spezifiziert werden.

Exakt hierin ist zugleich ein Ja begründet.

Ja in einem Arbeitsumfeld, zu dessen Charakteristika gehören: der Wechsel von Partnern, Kollegen etc., unternehmensüberschreitendes Kooperieren (bis hin zur Auflösung traditioneller Unternehmensidentität), Entscheiden und strategisches sowie langfristiges, nachhaltiges Aufgleisen von Geschäftsmodellen und Entwicklungen, von Produkten und Diensten, was umfassendes Wissen mitbedingt auch über geopolitische und –wirtschaftliche Parameter. Hier braucht es formelle Führungskräfte mit unterscheidbaren Funktionen und Befugnissen. Mitarbeiter wären schlicht überfordert, zumal sie als Spezialisten primär ihr Expertentum aktuell halten, vertiefen, effektiv und effizient einsetzen sollen.

Die Überforderungsthese wird gestützt von Untersuchungen, die belegen, dass Klagen über „zu viel Stress“ infolge „agiler“ Arbeitsmethoden zugenommen haben. Außerdem strebt nur eine Minderheit von Hochschulabsolventen eine Führungslaufbahn an. Die dominante Begründung hebt auf den Arbeitsaufwand und das Ausmaß an Disstress und Verantwortung ab sowie auf die mangelnde Möglichkeit, das Ausmaß des nötigen Engagements mit persönlichen Interessen zu verbinden. Das BlendedLife-Modell (im Vergleich zur Work-Life-Balance) entfaltet gegenwärtig keine Sogfunktion. Der Trend geht hin zum „Arbeiten, um sehr gut und vergnüglich leben“ (Generation X, R. Scholz).

Einen weiteren strukturellen, systematischen, programmatischen Aspekt des Überforderungsrisikos beleuchtet folgendes Zitat, das auf einen (erwähnten) typischen Umstand in der neueren Arbeitswelt abstellt: „Mitarbeiter, die rechtlich zwar einem Arbeitgeber zugeordnet sind, sind künftig nicht mehr nur für einen Betrieb eines Arbeitgebers, sondern für mehrere Betriebe mehrerer Arbeitgeber im Konzern oder als Dienstleister beim Kunden oder auch als deren Leiharbeitnehmer tätig. Teams werden immer häufiger aus Mitarbeitern mehrerer Unternehmen des Konzerns und auch aus Mitarbeitern des Kunden zusammengesetzt. Arbeiten 4.0 stellt auch die Mitarbeiter vor enorme Herausforderungen: Häufiger wechselnde Arbeitsorte, wechselnde Teams, ständig wechselnde Chefs - zuweilen kurz - befristete Arbeitseinsätze und ein in ständigem Wandel befindliches betriebliches Umfeld erfordern ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft des Mitarbeiters und immer mehr Kommunikationsfähigkeit. Die bekannte feste Betriebsgemeinschaft mit jahrelangen beruflichen Beziehungen zu einem festen Kollegenkreis, gern auch "Seilschaft" genannt, gehört der Vergangenheit an - mit allen Vor- und Nachteilen.“ (http://www.manager magazin.de/unternehmen/karriere/digitalisierung-der-arbeitswelt-wie-funktioniert-arbeiten-4-0-a-1082272-3.html, von Stefan Röhrborn)

Ja, sofern auszeichnende Führungsfunktionen (verbunden also mit besonderen Befugnissen, Aufgaben) unvermeidlich sind (zumal, s.o., immer weniger Personen diese Funktion übernehmen möchten), Führung durch Menschen weiterhin nötig bleibt, Führungsfunktionen nicht technisch exekutiert werden. In diesem Kontext ist zu bedenken:

Unternehmen befinden sich in einem Stadium, das menschliche Führung noch unersetzlich macht; KI und EI sind noch nicht so weit entwickelt, dass sie menschliche Interaktion komplett übernehmen könnten. Zudem ist in allen kooperativen oder kollaborativen Varianten das Bedürfnis von Menschen nach direktem Kontakt, nach Mitgefühl, Einfühlung, Sensibilität in Sprechen und Handeln noch immer, manche sagen: in erhöhtem Maß ausgeprägt, so dass darauf nicht verzichtet werden kann. Und da dies Rechner bestenfalls ansatzweise, keinesfalls indes zuverlässig leisten, braucht es Menschen in Führungskontexten, noch.

Ähnliches trifft auf sachliche Anforderungen zu, etwa in Bezug auf rasches improvisatorisches Intervenieren. Trotz zunehmenden Vertrauens in Maschinen („Pepper“, „Eliza“ (Weizenbaum), Chatbots, Avatare als Stichworte) möchten mehrheitlich (noch) Menschen mit Menschen interagieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Konflikte anbahnen, umgehendes Entscheiden und Handeln gefordert ist, spontan/ intuitiv bzw. via Verhandlung für alle Beteiligten/ Betroffenen tragfähige Lösungen gefunden werden müssen, Bewerber ausgewählt werden sollen, etc.. Ähnliches gilt für unternehmerische Führung und Entscheidungshoheit (siehe Mängel z.B. bei Übersetzungen, Legal Tech und weitere digitalisierte Angebote in der Finanz- und Versicherungswirtschaft, Watson in der Medizin).

Ja insofern, als und solange Führung formale Spezifika aufweist, die nicht distribuiert sind bzw. zurzeit noch nicht verteilt werden können. Dazu zählen, wie Stefan Röhrborn erwähnt (a.a.O.), arbeitsrechtlich relevante Befugnisse und Regularien, die das hierarchische Prinzip mit ihm eigenen Weisungsbefugnissen, Rechten und Pflichten bis hin zu Haftungsfragen betreffen. Dem gehören auch Aspekte in Verantwortung und Entscheidungserfordernissen zu, die mit der Führung unternehmensüberschreitender, interkultureller, trans- und internationaler Teams einhergehen. Stefan Röhrborn: „So ist je nach Teamzusammensetzung oder Arbeitseinsatz eines Mitarbeiters immer wieder neu zu entscheiden, welche Führungskraft im konkreten Fall für Auswahl und Beaufsichtigung verantwortlich ist. Die disziplinarische Führungskraft oder doch der fachliche Vorgesetzte? Ebenso komplex: Wer darf welchem - eigenen oder fremden - Mitarbeiter Weisungen erteilen hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt der Tätigkeit? Wer überwacht den Mitarbeiter hinsichtlich Inhalt, Qualität und Quantität der Arbeit? Und wenn ein Rechner das Team zusammengestellt hat: Wer verantwortet Auswahlfehler, sollte der Mitarbeiter einen Schaden verursachen und es um Haftung gehen? So geht es munter weiter: Mitarbeiter einer länderübergreifenden einheitlichen Arbeitsgruppe könnten unterschiedlichen Rechtsordnungen unterliegen; Vergütungsunterschiede im Team werfen Fragen auf. Allein auf diese scheinbar banalen Fragen gibt es rechtlich gesehen nicht immer eine eindeutige Antwort. Für die Führungskräfte bedeutet dies künftig in erster Linie die Sicherstellung einer lückenlosen und transparenten Dokumentation aller Prozesse im HR-Bereich und in der Arbeitsorganisation: Vom Verfahren zur Stellenausschreibung und Bewerberauswahl über Einstellung, Auswahl bei der Besetzung einer Arbeitsgruppe über das Monitoring von Leistung und Verhalten der Mitarbeiter bis hin zur Qualitätssicherung und allen Maßnahmen zur Fehlermeldung und -korrektur - überall waltet Bürokratie.“

Ja auch eingedenk verinnerlichter (meist: entlastender) Funktionen von Führung, die sich im Reden über Führung ebenso zeigen wie im Zuschreiben von Verantwortung und Pflichten. Insbesondere:

Nach wie vor werden vornehmlich Führungskräfte adressiert, wenn es um Interaktionskultur mit Beschäftigten sowie um Verantwortungs- bzw. „Schuld“attribution geht: „Führungskräfte müssen….“, und läuft etwas schief, werden Fehler gemacht oder auch: achten Mitarbeiter zu wenig selbst auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden, fühlen sich Mitarbeiter zu wenig wertgeschätzt und so weiter, wird Führungskräften mit erhobenem Zeigefinger begegnet.

Diese Zuschreibung geht über Mitarbeiterführung hinaus und reicht bis hin zu Fragen nachhaltiger Unternehmensführung (Reputationsmanagement, Neuorganisation, Schließen von Bereichen, Kündigungen u. dgl.). Aller Rede über postherorisches, postpersonales, demokratisches Führen zum Trotz werden weiterhin umgehend Führungskräfte adressiert, „zur Verantwortung“ gezogen und fungieren als Projektionsflächen für sogenannte Verbesserungsvorschläge in Miteinander und Zusammenarbeit, die sich in Sollens-Sätze, in Normen und Gebote kleiden und Führungskräfte gegenüber Mitarbeitern in eine Fürsorgeverantwortung stecken. Die viel geforderte symmetrische Beziehung bleibt programmatisch und praktisch eine asymmetrische. (Siehe mein Buch: Unternehmen in der Psychofalle. Business Village Verlag.)

Dazu passt, dass im Reden und Schreiben über Führung noch immer Darstellungen von Führungsstilen, -modellen, -methoden dominieren, die Führungskräfte ins Zentrum stellen und die Unterscheidung von Führung und Geführt voraussetzen, notwendig mittransportieren und zementieren. Ein Analogon für Mitarbeiter ist mir nicht bekannt. Das Beharren auf dieser Unterscheidung deutet auf einen hohen Internalisierungsgrad hin sowie darauf, dass die Notwendigkeit der Unterscheidung grundsätzlich akzeptiert ist. Und dies, obgleich Führen und Geführt-Werten seit Jahren als dialogischer, wechselseitiger Prozess beschrieben (normiert) wird.

Führungskräfte werden weiterhin exponiert und dafür zuständig gehalten, dass Unternehmens- und Mitarbeiterführung den jeweils definierten Anforderungen und Bedarfen genügen. Ein aktueller Fund illustriert dies: In der Wirtschaftswoche vom 17.08.2018 findet sich auf S. 94 ein Kurzartikel von Kristin Schmidt mit dem Titel „Visionär statt Diktator“. (Dass der Titel sprachlich schief ist, soll hier nicht interessieren.) Im Zentrum: Führungskräfte und ihr – gemessen an Einschätzungen und Wünschen von Mitarbeitern – fehlerhaftes Selbstbild in Bezug auf ihren Führungsstil, was deshalb als gravierend und verbesserungsbedürftig herausgestellt wird, weil Mitarbeiter nach einem „Chef“ verlangen.

In übersimplifizierender Manier wird die häufig konstruierte Opposition von Führungskräften und Mitarbeitern aufgebaut, verknüpft mit der Rollenverteilung Täter und Opfer und hervorgehoben, was eine „Studie“, eine Befragung von 13 500 Fach- und Führungskräften der Personalberatung Kienbaum und der Stellenbörse Stepstone, herausgefunden hat: Führungskräfte täuschen sich darin, wenn sie meinen, den Stilwunsch von Mitarbeitern mehrheitlich zu erfüllen. Diese wünschen sich nämlich zu 94 Prozent „einen Chef, der als Vorbild dient und Visionen vermittelt. Ebenfalls hoch im Kurs steht die strategische Führung (88 Prozent), gefolgt von der ethischen Variante (84%). Demgegenüber stehen die Einschätzungen von „Angestellten“, „Untergebenen“, die den direktiven Führungsstil als dominant ansehen (54 Prozent), während 29 Prozent der „befragten Angestellten“ ihren „Chefs“ attestieren, transformational zu führen und 9 Prozent meinen, ihr Chef orientiere sich im Alltag an moralischen Werten.

Unabhängig von der wissenschaftlich-empirischen Qualität und Aussagekraft – interessant ist dies: Die Wortwahl der Autorin des Artikels stellt nicht in Frage, dass formale Führung nötig ist und wählt neben dem Begriff „Angestellte“, der nichts über Hierarchie aussagt, Begriffe, die gleichwohl den Status Quo bestätigen. „Führungskräfte“ sind „Chefs“, „Mitarbeiter“ sind „Mitarbeiter“ und „Untergebene“. Haupteinflussmacht und Gesamtverantwortung liegen bei der Führungskraft, beim „Chef“. Dazu wird affirmativ der Geschäftsführer der Managementberatung Kienbaum, Walter Jochmann, zitiert: „Führung nimmt wesentlich Einfluss auf Mitarbeiterzufriedenheit“ und „Für den Erfolg eines Unternehmens sei es essenziell, dass die Personalverantwortlichen die individuellen Bedürfnisse ihrer Angestellten kennen.“

Die Asymmetrie der Beziehung, die herausragende Funktion von Führung und Rangverhältnis werden bestätigt, und zwar mit dem vertrauten Paradigma a) individualisierter Führung, der besonderen Fürsorgeverantwortung von Führungskräften gegenüber jedem einzelnen Mitarbeiter und b) der Täterschaft (Sender), die bei Führungskräften liegt, während Mitarbeiter als Opfer (Empfänger) erscheinen, die dem Führungseinfluss ausgesetzt sind.

Dieses Muster und „Narrativ“ ist offenkundig derartig verinnerlicht, dass Führung auch weiterhin personal besetzt und Führungskräfte die Adresse von „Verbesserungen“ bleiben. Um das Selbstbild den Fremdbildern anzupassen und eine „gesunde Selbsteinschätzung“ zu erlangen, die „der erste Schritt zu besserer Führung“ sei, wird Sebastian Dettmers, Geschäftsführer von Stepstone zitiert, sollten Führungskräfte (nicht: Mitarbeiter!) aus verschiedenen Kreisen Feedback einholen: „Die Studienautoren empfehlen den Führungskräften deshalb, sich regelmäßig von Mitarbeitern, Kollegen und Kunden bewerten zu lassen.“

Bekräftigt wird die traditionale Sicht auf Führungskräfte und Mitarbeiter durch die (übersimplifizierte Klischee-) Skizze von „sieben Führungsstilen“. Die laut Studie gewünschte Transformationale Führung wird beschrieben mit diesen Worten: „Der Chef gibt den charismatischen Führer, die die Arbeit visionär auflädt. So motiviert er Mitarbeite ohne materielle Anreize.“ Strategische Führung obliegt ebenfalls der Führungskraft: „Chefs geben klare Ziele vor und unterstützen die Angestellten konstruktiv auf dem Weg dorthin, aber ohne Mikromanagement.“ Und in der Ethischen Führung gilt: „Vorgesetzte bauen auf Moral und Transparenz, außerdem kümmern sie sich um die persönlichen Belange der Mitarbeiter.“

Neben eklatanten sachlichen Schwächen dieser Skizzen sei zudem nur erwähnt, dass die Ausführungen konträr zur oben erwähnten Gleichheits-, Gleichberechtigungs-, Autonomierhetorik stehen, die sich v.a. an dem selbstverantwortlichen und unternehmerisch tätigen Mitarbeiter als regulative Idee orientiert. (Kritische Beiträge dazu in zahlreichen meiner Publikationen, pointiert in „Unternehmen in der Psychofalle. Business Village Verlag.)

Wann die Nachfrage ihren Adressaten verliert
„In Australien haben Wissenschaftler der La-Trobe-Universität von Melbourne einen Roboter entwickelt, der Personalabteilungen von Unternehmen bei der Auswahl von Bewerbern für einen Arbeitsplatz helfen kann. Die Maschine namens Matilda sieht ein wenig aus wie ein zu groß geratener Reiskocher, hat zwei Augen, einen Lautsprecher und zwei Mikrofone, kann ans Internet und an große Datenbanken angeschlossen werden. Sie soll einem Job-Bewerber binnen einer halben Stunde 76 Fragen stellen, ihn bei den Antworten beobachten, das Minensiel analysieren und Schlüsse daraus ziehen.“ (FAZ 9.2.2017, S. 21 ohne Autornamen: „Das Zeitalter der Roboter bricht an.“)

Zugespitzt: Die Erosion der Beziehungsarchitektur „Führungskraft – Mitarbeiter“ wird mit allen bekannten Implikationen eher aus der technischen Ecke angestoßen (Artificial und Emotional Computing). Leitsätze zu erstellen, wird spätestens dann obsolet, wenn menschliche Zutaten offenkundig bzw. – dank entsprechender Grundprogrammierung selbstlernender Systeme – nur noch spurenhaft in Codes auftauchen bzw. nachweisbar sind und ansonsten Menschen zu Exekutoren errechneter Vorgaben und Entscheidungen werden. Darin werden sie gleich. Dann sind alle gleich(ermaßen degradiert).

 

Smartness 4.0: Industrie 4.0 & Internet der Dinge – ein Versprechen

am Montag, 23 November 2015.

Welche Bedeutung von „Versprechen“ wird sich im Namen der viel zitierten Digitalen Transformation durchsetzen? Eine Formulierung, die man nicht meint, oder eine Formulierung, die etwas in Aussicht stellt und die Realisierung dessen zusichert?

Die Bundeskanzlerin Angela Merkel ruft am Wirtschaftsforum in Davos 2015 die deutsche Industrie dazu auf, „die Verschmelzung der Welt des Internet mit der Welt der industriellen Produktion möglichst schnell“ zu „bewältigen“. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ruft die Bundesrepublik Deutschland zum „digitalen Wachstumsland“ aus. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles stellt Anpassungen an zumindest einige Realitäten im digital basierten Arbeiten in ihrer Kampagne „Arbeit 4.0“ in Aussicht. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie jenes für Wirtschaft und Energie initiieren und protegieren Forschungs- und Pilotinitiativen, und die KfW stellt Fördertöpfe bereit. Ganz abgesehen von privaten Initiativen, die Forschung und Unternehmen verknüpfen.

Die „Digitale Agenda 2014 – 2017“ läuft auf Hochtouren – mit massiver Förderung aus der Politik, und das unterstreicht, worum es faktisch geht: die Sicherung des Wirtschaftsstandorts als einem im wörtlichen Sinn maßgeblichen „Taktgeber“ für die „Verschmelzung“ von Industrie/ Physis und Internet/ Virtualität. Das wirtschafts- und industriepolitische Engagement entspricht einem geopolitischen Interesse, dessen Realisierung als existenziell betrachtet wird. Kein Wunder, dass reine Affirmation dominiert und mit Appellen einherläuft, insbesondere der Mittelstand solle sich umgehend im Laufschritt auf den Weg machen. (Dass gleichzeitig sämtliche staatlichen Institutionen in gleichsam peinlichem Ausmaß Defizite ausweisen, sei hier nur erwähnt.)

Bei derartig viel Prominenz und täglicher medialer Flankierung sollte man meinen, alle Sprechenden und Angesprochenen sprächen vom Gleichen. Dem scheint keineswegs so zu sein, jedenfalls nicht im Bereich von KMU.

Angeblich wissen in der Wirtschaft – je nach Befragungsinstitut - nur zwischen 23% und 27% befragter Führungspersonen, wie sie Begriff und Konzept von Industrie 4.0 näher erläutern sollen (verstehen). Verschiedene Befragungen, u.a. der IAA (gut 330 Befragte) und Bitkom (über 500 Befragte), legen ein Defizit an oder Unterschiede im Verständnis nahe. In der Beratung und auf Vorträgen begegnen mir auffällig viele Führungskräfte, die zugeben, eher ein Frage- als ein Ausrufungszeichen bei „Industrie 4.0“ oder „Internet der Dinge“ vor Augen zu haben. Und dies, obgleich inzwischen zahlreiche Initiativen, Netzwerke, Cluster, Plattformen sowie Einzel- und Insellösungen (Pilotprojekte, Best Practice-Beispiele) innerhalb von Unternehmen existieren. Offenkundig hilft es nur bedingt, dass kaum ein Tag vergeht, in der öffentlich etwas zum Thema berichtet wird. Eine gewisse Skepsis scheint durchaus angebracht – sowohl in Bezug auf die vermeintliche Ignoranz als auch in Bezug auf das vermeintlich gleiche Verständnis. 

Begriffserläuterung
Begriffe und Abkürzungen flirren fröhlich durcheinander: Cyber-physikalische Systeme/ CPS, Internet der Dinge, Dienste, Menschen oder Internet of Things/ IoT und Industrie 4.0. 

Zwar mangelt es an einer einheitlichen, noch dazu internationalen Definition. Immerhin gibt es einen gemeinsamen Nenner, der die wichtigsten Charakteristika transportiert.

Industrie 4.0 ist ein deutscher Ausdruck, der auf zweierlei verweist. Zum einen auf die Herkunft und Basis bundesrepublikanischer Wirtschaft: Industrie, fertigendes Gewerbe, verbunden mit der Absicht, den Produktionsstandort zu halten und simultan zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Internets der Dinge, Dienste und Menschen zu machen. Daher die Rede von „Verschmelzung“, die maßgeblich auf hiesigem Boden mitgestaltet werden soll. Zum zweiten bezeichnet er eine Epochenwende: nach den ersten drei folgt nun die vierte industrielle Revolution. 

Der Begriff Industrie 4.0 wird in Publikationen häufig identifiziert mit dem Konzept des Cyber-Physical-Systems (CPS) sowie mit dem des Internets der Dinge (Internet of Things, IoT). Das bedarf einer Korrektur. Stichwortartig: CPS verbindet dank embedded systems physische Dinge. Der Fokus liegt auf den Komponenten, die leistungsstark sind und sich durch kybernetische Schleifen digital miteinander vernetzen. (Das „Cyber“ verweist auf Kybernetik.) Das Internet verbindet Menschen und Dienste (Smart Services) und fokussiert Konnektivität und Community-Bildung. Hier ist es die Vernetzung, die die Leistungsfähigkeit maßgeblich bestimmt. 

Vereinfacht gesagt: Konvergieren CPS und Internet, entsteht das Internet of Things. Dies bedingt, dass Objekte, Komponenten etc. im Internet adressierbar, also lokalisier- und ansprechbar sowie dank Sensoren und Akuatoren reagibel und lernfähig sind und sich daher adaptiv vernetzen können. Dies wird als „Konvergenz“ der Basistechnologie der embedded Systems sowie der des Internets bzw. der der globalen Datenwolke beschrieben.

Miniaturisierung, Adressierung und Cloud Computing dienen als Dreieinigkeit zur Begründung des IoT, verstanden als „Verschmelzung“ von physischen und virtuellen „Dingen“, Services und Menschen. Das Internet der Dinge ist insofern als synergetischer Effekt oder Emergenzphänomen beschreibbar. 

Die sprachliche Gleichbehandlung von Industrie 4.0 und IoT hat sich vielleicht vor dem Hintergrund durchgesetzt, das sie die gleichen Technologien nutzen und das gleiche Ziel verfolgen: die lückenlose Vernetzung von teil- und vollautonomen, lernenden und umfeldsensiblen Dingen, Programmen, Services und Menschen. 

Bei Industrie 4.0 ist dies bezogen auf fertigendes Gewerbe und ein gesamtes Wertschöpfungsnetzwerk mit dem Ziel der Losgröße 1 für Fertigung/Service – insofern ist es ein eher geschlossener Gestaltungskontext. Das IoT ist bezogen auf offenes Netzwerken im grenzfreien „globalen Dorf“, das die permanente Wandelbarkeit konkreter Netzwerke notwendig mitmeint. Im IoT existieren nur Relationen – Relationalität und Konnektivität schaffen Leistung, Nutzen, Sinn.  

Sowohl Industrie 4.0 als auch IoT schleusen zunehmend Technologie(n) ein aus den Bereichen Künstlicher Intelligenz (KI) oder cognitive technology und Emotionaler Intelligenz oder emotional computing.

Digitale Transformation
Das Schlagwort von der digitalen Transformation beschreibt vor allem einen Übergang, der evolutiv in Unternehmen/ Organisationen umgesetzt wird. Simplifiziert und plakativ formuliert:

Weg von:

  • Zentraler Steuerung
  • Homogenität Hardware, ITK
  • Master-Slave-Modell
  • Deterministischen Systemen
  • Steuerung: Aktorenansatz

Hin zu:

  • Dezentraler Steuerung
  • Heterogenität Hardware, ITK
  • Kollaborativer Umgebung, Teamlogik
  • Probabilistischen Systemen
  • Steuerung nach dem Modell Agency (Multi Agenten Systeme, autonom-adaptiv, lokal, gleichberechtigt) 
  • Synergie: KI & EI & Gefühlssensorik

Praktisch-technische Hürden & Pendenzen auf dem Weg zu Industrie 4.0/ IoT
Wenn im Titel „Versprechen“ steht, sollten Betroffene (Unternehmer, Manager) beide Interpretationsmöglichkeiten mitlaufen lassen: IoT als Zusage und Zusicherung, die für Zukünftiges gelten, sowie als eine sprachlich-semantische Fehlleistung. Denn es gibt trotz der begeisterten Rhetorik und der erwähnten Vielzahl an Initiativen, Netzwerken, Clustern und Beispielen noch ungeklärte Fragen, ungelöste Probleme und Hürden – gemessen nicht an Insel- und Einzellösungen, die bereits realisiert sind, sondern gemessen an dem Anspruch oder der Vision, die kolportiert wird: Industrie 4.0/ IoT als lückenlose Vernetzung aller adressierbaren Dinge (i.w.S.).

Unternehmen, die sich auf den Weg machen, sollten sich die aktuellen Pendenzen gegenwärtigen, um sich zu wappnen.

Zu den Pendenzen zählen:

  • Adressierbarkeit im IPv6
  • Mangel an einheitlichen Standards 
    • für Daten-, Signalübertragung, Verbindung zwischen Dingen/Diensten/Menschen & Dingen/Diensten/Menschen & Internet
    • staatenübergreifende Lösungen bei Mobilfunkbetreibern/ tarifen (Wechsel Provider & SIM-Karte)
    • Schnittstellenmanagement
  • Risk Management: Daten, Rechtsbeziehungen, v.a. 
    • Sicherheitsdefizite bei Vernetzung von Produktion & Anlagen in Firmennetzwerken (Datensicherheit, Cyberkriminalität, Spionage)
    • Datenaustausch/speicherrechte: s. Aussetzung v. „safe habor“ durch EuGH
    • Haftungsfragen
  • Zeitkritische Passung: Reimund Neugebauer (Deutsche Fraunhofer Gesell. & Mitinitiator IDS (Industrial Data Space)): Anlagensteuerung benötigt Reaktionszeiten von z.T. unter 10 Millisek. - dies nicht gegeben – nötig: Taktiles Internet.
  • Abhängigkeit von wenigen, meist US-amerikanischen Datenfarmen/Cloudanbietern (Big Five): Sirenenserver (J. Lanier) / Stacks (Bruce Sterling); Europäische Alternativen werden anvisiert.
  • Kommunikation & Kooperation M2M & M2Mensch im Sinn von alltagstauglichem Verstehen, Verständigen 
    • nötig u.a.: Hybride Cognitive Technology (KI), Emotional Computing, Lernmodi induktiv und deduktiv 

Szenarien: Auswirkungen in und für Unternehmen und deren Umfeld: Gesellschaft
Auf die menschliche Arbeitswelt bezogen malen Fürsprecher, etwa das „Zukunftsbild 4.0“ vom Bundesministerium für Forschung und Bildung, eine Zukunft harmonischer Kooperation von Menschen und Maschinen in Pastellfarben aus. Fluide Organisationseinheiten mit Expertenbesetzung sorgen für demokratische Arbeitskultur, flexible Arbeitszeit- und Arbeitsortregelungen sowie individualisiertes Lernen/ Forbilden unterstützen Angestellte darin, ihren Work-Life-Balance- und lebensphasenspezifischen Bedürfnissen nachzugehen. Geführte und führende Assistenz- und Prozesssysteme mildern die Last von Verantwortung und Anstrengung, und das Lernen findet niedrigschwellig vorzugsweise via Augmented Reality statt, jederzeit on- und off-the-job. Umfassendes multimediales Lernen wird Angestellten wie Freien Mitarbeitern (Selbstständigen, Freiberuflern, Crowdworkern) zugänglich gemacht; gelehrt und gelernt wird zunehmend on the fly, nicht zuletzt dank Microlearning, also das (oft mobile) Lernen anhand von Schnipseln und nur dann, wenn es nötig ist, um eine Arbeit korrekt zu verrichten.  

Mitarbeiterführung profiliert Führende eher als Moderatoren und Mentoren, die ihre Klientel vor allem ermutigen und befähigen, kreativ zu sein, dazu zu lernen und Optionen in der Partizipation wahrzunehmen. 

Operative Führungsfunktionen werden zunehmend von Maschinen und Programmen ausgeübt (siehe unten, Beispiel Hitachi). Nur dort, wo koordiniert, Teams zusammengesetzt, „motiviert“, zu innovativem Denken und Handeln ermuntert, auf Ausnahmeanforderungen/ situationen reagiert und wo über strategische Weichenstellungen entschieden werden muss, obliegt Führung – wenngleich aufgrund von via Big Data gelieferten Materials - noch Menschen. (Die Zeit läuft allerdings – denn was digitalisiert werden kann, wird es werden. Und man höre und lese Repräsentanten wie Eric Schmidt von Google (affirmativ) und Evgeny Morozov (kritisch und politisch): Algorithmische Regulation kolonisiert alle Lebenswelten, die bald zu einer einzigen konvergiert sein werden. Calm Technology, Singularität und Immersion als Schlüsselkonzepte.)

Die aktuellen Trends werden weiterverfolgt und ausgebaut werden: Brain-Computer-Interfaces, Implantate, Head Mounted Displays, Wearables und Handhelds, 3D-Design und -Druck sowie kollaborative Arbeitsumgebungen; etwa in der Fertigung, wo Arbeiter und Roboter Hand in Hand arbeiten, weil Roboter mit umfeldsensiblen Sensoren ausgestattet sind, via Multiagentensysteme und multimodal mit dem Menschen agieren, mündlich-sprachlich, gestisch, mimisch, touch-basiert. 

Unternehmen werden vertikal und horizontal vernetzt sein, in in- und externen Netzwerken, auf offenen und geschlossenen Plattformen agieren, Kapazitätsbroker für ad-hoc Organisationen und Kooperationen nutzen. Jeder Schritt wird in der Industrie 4.0 im Rahmen der gesamten Wertschöpfungskette (Management-, Prozess-, Steuerungsebene) von Idee über Entwicklung, Produktion, Logistik bis Auslieferung, Installation, Schulung, Inbetriebnahme und Services im After-Sales-Bereich und unter Nutzung von Big Data und Smart Data die Schleife vom Kunden zurück im Internet abbilden können. Diese Unternehmen sorgen für ihre eigene Auslastung und Versorgung mit innovativen Inputs nicht nur durch eine partizipationsfreundliche Mitarbeiterführung, durch Inkubatoren und Kollaboration mit bzw. Integration von Start-ups, sondern auch dadurch, dass sie mit Service-Aggregatoren zusammenarbeiten. 

Diese hochinnovativen Unternehmen bewegen sich amöbengleich um den Globus und bedienen ihre Kunden dank Losgröße 1 zu jedem Zeitpunkt optimal, sowohl im BtB- als auch im BtC-Geschäft, sowohl auf dem Sektor industrieller Produktion als auch der Dienstleistung im weitesten Sinn – dank Big Data, Cloud Computing und lückenloser Vernetzung. 

Die Fortschritte in Künstlicher Intelligenz und Emotional Computing befeuern auch dies: das Übertragen von kognitiven Leistungen, die einst als menschspezifisch galten: Denken, Erkennen, Entscheiden, Gestalten, sowie auch von sozial-kommunikativ-emotionalen Leistungen. Dies zeigt der Einsatz von Robotern schon heute in sozialen Bereichen wie Schule/ Universität (Südkorea, Japan), Therapie/Pflege, Führung (z.B. Hitachi). 

Unternehmen müssen sich u.a. dringend die Frage stellen, wie sie mit dem Trend: dem Ersatz von Führungspersonen durch das Übertragen von Führungsfunktion/-tätigkeit auf künstliche Agenten/ Technologien umgehen möchten. Zudem drängelt sich die Frage in den Vordergrund, inwiefern den tröstenden und nett gemeinten Deklarationen zu glauben ist, der Mensch bleibe weiterhin im Mittelpunkt (so er es denn überhaupt noch ist). Vielleicht sind unternehmerische Entscheider zum ersten Mal in der Geschichte konfrontiert mit der Forderung, sich nicht nur technisch und betriebswirtschaftlich, sondern auch ethisch und politisch zu entscheiden 

Der Tenor zu 4.0 ist affirmativ. Kritische und besorgte Stimmen kommen aus verschiedenen Richtungen, die ich mit einigen Stichworten versehen möchte:

  • Recht & Sicherheit: Datenübertragung, ungebrochene Konnektivität, Datenhoheit und Verfügungsmacht
  • Arbeit & Gewerkschaft: Entdemokratisierung, Totalkontrolle, Prekarisierung, Massenarbeitslosigkeit – auch von „Wissensarbeitern“
  • Gesellschaft: Polarisierung in Gewinner und Verlierer, Gebrauchte und Überflüssige – Risiko für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft (von anderen Faktoren hier abgesehen)
  • Bildung: Risiko der Abwendung von Erlernen kognitiver Fertigkeiten und deren Anwendung zu Gunsten dessen, was als „digitale Kompetenz“ angesehen wird – die allerdings sich zunehmend erschöpft darin, technischen Anweisungen Folge zu leisten; Rudimentierung von Lernkompetenz und Souveränität.
  • Kulturwissenschaft: Individualisierung als Zurechnung von Handlungen und Entscheidung allein auf den Einzelnen und aufgrund algorithmischer Regulation (Evgeny Morozov): Entpolitisierung als Folge der Umdefinition sämtlicher Probleme als reine Daten-, Informations-, Verrechnungsprobleme, die gelöst werden können – und parallel dazu Auflösung demokratischer und staatlicher Institutionen zur Lenkung einer Gesellschaft.

Vor der Entscheidung für Industrie 4.0/ IoT: erste Schritte für Unternehmen
Konzerne, mit schriller Tonalität indes die KMU als Säule des deutschen Wohlstandes werden politisch und von Forschungsseite zurzeit fast gehetzt, sich als „Pioniere der Digitalisierung“ zu gerieren. 

Allerdings gibt es trifftige Gründe für eine langsame Gangart. Einige wesentliche Hürden habe ich oben notiert mit dem Fazit: Bis dato gibt es im wörtlichen Sinn maßgebliche ungelöste Probleme und Desiderate, ohne die ein Internet der Dinge bereits für Teillösungen nicht oder nur schwerlich verwirklicht werden kann, geschweige denn umfänglich. 

Auch aus strategischer Perspektive kann es sinnvoll sein, „vor-sichtig“ zu agieren. Die Strategien Copy Cat und Blue Ocean zeigen, dass es klug sein kann, erst einmal abzuwarten, was die Pioniere tun, um deren Produkte dann auf Schwachstellen (technische, Kunden-bezogene) zu untersuchen, zu optimieren bzw. entsprechend zu verändern und dann rasch auf den Markt zu bringen. So ist nicht selten der zweite zum ersten geworden.

Unternehmen bzw. ihre Repräsentanten sollten operative Hektik, die meist Ausfluss von Begeisterung oder Getriebenheit ist, bemerken und einander zu Vernunft aufrufen. Generell gilt: Kein Aktionismus! Selektiv und bewusst und strikt nach Maßgabe des eigenen Geschäfts entscheiden. Das kann auch bedeuten, für das Unternehmen oder (v.a. bei hoher Diversifiziertheit) ausgewählte Geschäftsfelder zu entscheiden: „Let them go big and global – I stay small and local!“

Weitere Hinweise für jene, die sich auf den Weg machen oder ihn weiterhin beschreiten möchten:

  • Überprüfen von Ist und Soll – einschließlich Begründungen und Investitionsvolumina innerhalb skizzierter Zeiträume (strategische Ausrichtung, operative Umsetzung, Auswirkung auf Organisation und Zusammenarbeit).
  • Schrittweises Vorgehen gegen „over all“ oder in einem Zug-Realisierung abwägen.
  • Nach übertragbaren Best Pracitice, Pilot-, Forschungsergebnissen Ausschau halten (z.B: Smart Factory Kaiserslautern, Fraunhofer Gesellschaft für Künstliche Intelligenz).
  • Internes interdisziplinär Gremium installieren, das Beurteilungskompetenz in Bezug auf Digitale Transformation vereint und intern als Expertengremium beratende und begleitende Funktion wahrnimmt.
  • Kooperationen, Kompetenz- Netzwerke, Cluster, Plattformen nutzen.
  • Entscheidungen treffen i.B.a. das Agieren in geschlossenen oder offenen Netzwerken/ Plattformen 
  • Konnektivität dort installieren, wo sie sicher bzw. höchstwahrscheinlich (bezogen auf Geschäftsmodelle, Wertschöpfungsnetzwerke) benötigt wird.
  • Abhängigkeiten realisieren (z.B. Dateinleitung/ Datenübertragung (Geschwindigkeit, Sicherheit; (inter-) nationale Hürden in der Datenübertragung), Datenfarmen / Cloudanbieter).
  • Umfängliches Risk Management mit Ausfallszenarien entwerfen.
  • Start-ups, Inkubatoren u. dgl. fundiert auf Notwendigkeit und wahrscheinlichen Nutzen kritisch überprüfen und in Abhängigkeit von strategisch relevanten Weggabelungen im Rahmen des eigenen Geschäfts einbeziehen sowie kulturell in Bezug auf Befugnisse, Aufgaben, Ergebnisse, Ressourcen aller Art verankern und darüber unternehmensweit informieren.
  • Shared Services nutzen.
  • Freie Kapazitäten unternehmensübergreifend in Ad-hoc-Organisation und –Kollaboration mit Hilfe von Service-Aggregatoren, Kapazitätsbroker nutzen.
  • Qualifizieren: vorbereitend, begleitend, on- & off-the-job (didaktisch sinnvoll multimedial, -modal).
  • Führungsmodelle auf unternehmensspezifische Passung überprüfen und sinnvolle Entscheidungen (z.B. in puncto Zentralität, Dezentralität, Partizipation) nicht von Moden leiten lassen.

Stehaufmännchen und Baron Münchhausen. Persönliche Resilienz in Pandemie-Zeiten.

am Dienstag, 29 September 2020.

Aktuelle Ausgangslage
Innere Widerständigkeit oder Wachsen an Herausforderungen, wie Resilienz geläufig übersetzt wird, ist eingedenk der latenten Dauerbelastung eine erstrebenswerte Fertigkeit. Denn im Alltag ist die Pandemie stets gegenwärtig, sichtbar besonders durch Abstandsgebot und den obligatorischen Mund-Nase-Schutz; denn beides gilt in unserer Gesellschaft nicht nur als einer transparenten, offenen und auch empathischen Kommunikation hinderlich und als lästig, sondern geht Arm in Arm mit Unsicherheit in sozialen Situationen einher . Umfragen zeigen, dass diese Sichtbarkeiten permanent gespürt werden und daher entscheidend dazu beitragen, das Wohlbefinden generell zu beeinträchtigen. (Von „Konsumlust“ ganz zu schweigen.)

Folglich stellt sich die Frage, welche Optionen individuell zur Verfügung stehen, um das Gefühl ständiger Bedrohung zumindest im eigenen Befinden und folglich im Verhalten zu minimieren. Anders gesagt: Was wir tun können, um die seelische Belastung zu verringern und wieder guten Mutes zu sein.

Hilfe durch das Konzept Resilienz
Dabei kann das Konzept von Resilienz assistieren. Dessen leitende Frage lautet: Wie gelingt es manchen Menschen, Krisensituationen so wenden, dass sie aus ihnen sogar gestärkt hervorgehen, zumindest in Umbruchphasen nicht kollabieren, sondern handlungsfähig in gewünschter Weise bleiben. Plakativ: Was kann man tun, um nicht depressiv zu werden oder zu zerbrechen, sondern optimistisch und couragiert zu werden bzw. zu bleiben?

Die Figur des Stehaufmännchens und des Barons von Münchhausen illustrieren diesen individuellen Aspekt des „Wiederaufstehens“ und fokussieren, mit „innerer Widerständigkeit“ gemeint ist. Forschung und Anwendung von Resilienz zeigen: Jeder kann lernen, resilient(er) zu werden. Es ist also eine Fähig- und Fertigkeit, die Menschen entwickeln, sich aneignen können, da sie sich in Strategien zeigen. Und dies, obgleich genetische und epigenetische Dispositionen eine Rolle spielen (hier liefern Neurowissenschaften wertvolle Erkenntnisse, neben den Faktoren Herkunft und Milieu, also soziales, kulturelles Umfeld im Aufwachsen und Agieren im privaten wie beruflichen Alltag; und ein weiterer Aspekt zielt auf eigene Grundhaltungen im und zum Leben. Erwiesen ist zudem, dass Umfeldfaktoren bzw. Angebote eine erhebliche Rolle, etwa Personen, die als vorbildhaft, zuverlässig, vertrauenswürdig und hilfreich betrachtet werden; oder Institutionen wie Schule (Lehrer, Peers, Lernumfeld), Beratungsangebote, Sozialämter etc..

All diese Faktoren fallen ins Gewicht, wenn auch in persönlich (individuell) unterschiedlicher Weise. Sie alle tragen dazu bei, dass eine Person sich leicht(er) damit tut, auf Zuversicht selbst in höchst belastenden Phasen zu setzen, während eine andere Person aus dem Tal der Tränen kaum die Sonne am Himmel erkennen kann.

Stehaufmännchen
Das Stehaufmännchen, ein Kinderspielzeug, wackelt, sobald man es anstößt oder es durch andere Außeneinwirkung in Bewegung gerät, in alle Richtungen, und egal, wie sehr man es zu einer Seite schubst: es stellt sich immer wieder auf.

Das Stehaufmännchen repräsentiert im übertragenen Sinn vor allem anderen: Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit, wenn man so will: Agilität und Adaptivität, – und beides in souveräner Haltung, also ohne sich zu verbiegen, ohne in der Anpassung aufzugehen. Es stellt sich ja immer wieder auf, und zwar aus eigenem Antrieb.

Baron von Münchhausen
Baron von Münchhausen gilt vielen Menschen als Narzisst und wird damit pathologisiert, oder als von sich völlig überzeugter Schwätzer). Allerdings repräsentiert er durchaus Erstrebenswertes: gleichsam uferlosen Optimismus und Glauben an die eigenen Fähigkeiten (hohe Überzeugung der Selbstwirksamkeit und des Copings) und an das Glück, das ihm (im Zweifel, dass eigene Fertigkeit doch nicht genügt) hold ist.

Beide, Stehaufmännchen und Münchhausen, vereinen Haltung, Bereitschaft und Fähigkeiten, die resilienten Menschen zugeschrieben werden. Sie lassen sich nicht nur nicht entmutigen, sondern gehorchen dem Bonmot: Hinfallen, Krönchen richten, aufstehen, weiterlaufen – in weiser Kenntnis des Umstandes, dass man scheitern, daraus lernen und frohgemut weiterleben kann.

Resilienz adressiert Einzelne, Gruppen, Organisationen
Vor einigen Jahren wurde Resilienz herausgelöst und zum eigenen Thema sowie zum Gegenstand spezieller Forschung und Anwendung gemacht. Inzwischen gibt es ausgewiesene Websites, Gruppen (z.B. GABAL e.V., XING) und jede Menge Forschungsliteratur dazu (von populärer Literatur ganz zu schweigen). Bis dahin lief sie sozusagen implizit in psychologischer Forschung und praktischer Therapie/ Beratung mit, insbesondere in der Positiven Psychologie, der Salutogenese und der Stress-Coping-Forschung.

Geforscht wird zum einen zu Menschen/ Personen: zu Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sowohl im privat-persönlichen als auch im schulischen/universitären und beruflichen Umfeld, und dies sowohl persönlich/individuell als auch zwischenmenschlich, interpersonell oder interaktionell.

Ausschau gehalten wird nach subjektiven Ressourcen, Strategien, Potenzialen und folglich Optionen: Was kann ich selbst tun?; ferner nach Interaktionen (Kommunikation, Kooperation) und sozialen Beziehungen: Welche Vorannahmen leiten mich? Bin ich in der Lage, Aufmerksamkeit von mir abzuziehen (Kreisen um mich selbst) und sie auf andere Menschen, Geschehen, Sachverhalte lenken? In NLP (Neurolinguistisches Programmieren) und Hypnotherapie, aber auch im Alltäglichen gilt: Die Energie geht dorthin, wo die Aufmerksamkeit liegt. Das kann man nutzen im Bestreben, die persönliche Resilienz zu stärken. Wie kann ich die Muster in meinem Denken, Fühlen, Handeln, in meinen Interaktionen beschreiben und beeinflussen? Und: Welche Menschen können mir helfen (konkret oder durch Vorbildfunktion)?

Zum anderen wird Resilienz auf Gruppen und Organisationen, prominent auf Unternehmen, bezogen. Den Fokus der Betrachtung und Intervention bilden hier neben den Menschen (Haltung, emotionale und kognitive Bereitschaften und Kompetenzen, Verhalten) Strukturen, Prozesse, Prozedere und organisationale Kultur.

Streben Organisationen (inklusiv Unternehmen) Resilienz an, gehören Modell und Praxis der HRO zu den derzeit überzeugendsten. Das Akronym HRO meint: High Reliability Organisations, in der Regel übersetzt als Hochzuverlässigkeitsorganisationen. Inwiefern das Modell der HRO, insbesondere in der Prägung von Sutcliffe und Weick signifikant dabei hilft, resiliente (auch: agile, adaptive) Organisationen aufzubauen, habe ich in anderen Publikationen und Blogbeiträgen skizziert.

Im Folgenden konzentriere ich mich auf persönliche Resilienz, weil Befragungen und wissenschaftliche Empirie zeigen, dass sie gerade gegenwärtig aktiv nachgefragt wird.

Weisen, Resilienz zu verstehen
Einigkeit besteht darüber, dass Resilienz schlussendlich von jedem Menschen selbst zu leisten ist. Allerdings variieren die Betrachtungsweisen. Je nach Arbeitszusammenhang und zu Grunde liegenden Modellen werden verschiedene Aspekte von Resilienz in den Vordergrund geschoben.

Bezogen auf Personen gilt: Resilienz wird mehrheitlich bestimmt als „innere Widerstandsfähigkeit“ im Sinne einer Antwort auf krisenhafte Lebenssituationen oder –phasen, als individuelle „Biegsamkeit“ (der Begriff kommt aus dem Stahlbereich) im Sinne von Anpassung an schwierige bis potenziell traumatisch wirkende Widerfahrnisse, Biegsamkeit meint eine persönlich stimmige Anpassungsbereitschaft und -fertigkeit, die im Kontrast steht zu dem, was „Sich-Verbiegen“ genannt wird, also persönlich nicht stimmiges Anpassen.

Eine weitere Bedeutungsfacette subjektiver Resilienz bezeichnet die Formulierung: „Gedeihen trotz widriger Umstände“, so der Titel eines Sammelbandes (Welter-Enderlin und Hildenbrand 2006). Dieses „Trotzdem“ bezieht sich auf die Fertigkeit, widrige Umstände, Hindernisse, Probleme so zu behandeln, dass die Betroffenen an ihnen wachsen, lernen und insofern zur Persönlichkeitsentwicklung nutzen.

Man kann auch, wie Conner (2006) von Resilienz als eines internen Orientierungssystems sprechen, das wir zurückgreifen können, wenn uns Erlebnisse aus der gewohnten Bahn zu werfen drohen. Stets bezeichnet Resilienz eine Kompetenz (Fähigkeit) und Fertigkeit (Performanz), deren Ausbildung, Mobilisierung, Anwendung und Wirksamkeit von Lebensphasen und Situationen abhängt.

Darin steckt der Hinweis, dass es um eine integrale Fähig- und Fertigkeit geht: Zu integrieren in das eigene Repertoire sind die Widerfahrnisse. Damit ist das viel zitierte „Ja zu etwas sagen“ oder „Annehmen“ gemeint. Das Akzeptieren ist ein wesentliches Moment dafür, dass der Betroffene beginnt, Ausschau zu halten nach hilfreichen, nutzbaren Ressourcen: sowohl im Rahmen seiner biographisch erworbenen als auch seiner Optionen im Umfeld (dazu siehe unten).

Bereits diese knappe Skizze macht klar: Resilienz ist als Fähig- und Fertigkeit entworfen, die im Verlauf des Lebens, in der Interaktion mit anderen, in verschiedensten sozialen Umfeldern und in der Auseinandersetzung mit Geschehnissen lebenslang ausgebildet wird.

Das deutet auf weitere Aspekte hin, wie Resilienz verstanden wird. Sie verweist neben der subjektiven Erlernbarkeit auf das Prozessuale hin: Resilienz entwickelt sich und fällt nicht als Fähigkeit vom Himmel. Das Verständnis, dass Resilienz als Prozess beleuchtet, konzentriert sich auf Übergänge in Lebensläufen, besonders krisenhafte.

Hervorgehoben wird ferner das soziale und relationale Moment. Die soziale und relationale Kategorie im Verständnis von Resilienz unterstreicht das Referenzielle und Korrelative: Resilienz bildet sich aus in Abhängigkeit von, in Beziehung zu und Wechselwirkung mit äußeren Faktoren, bei denen es sich um Menschen ebenso handeln kann wie um institutionelle Angebote wie beispielsweise sozialfürsorgerische Dienste.

Eine zusätzliche Erweiterung erfährt das Konzept mit Einbezug auch biologischer Einflüsse. Am umfassendsten ist dieser integrale Ansatz, der als „biopsychosoziale systemische“ Perspektive formuliert wird (Froma Walsh 2006). Diese Konzeption schließt neben psychologischen und sozialen Variablen auch soziokulturelle und ökologische, die Lebens-, Milieukontexte, sowie biologische und medizinische Aspekte mit ein. Nebenbei bemerkt: Die Forschung zur Rolle von biologischen bis hin zu molekulargenetischen Einflüssen ist noch ein sehr junger Forschungszweig (Holtmann 2004).

Wesentliche Erkenntnisse
Die bis heute längste und bekannteste Langzeitstudie ist die Kauai-Studie von Werner und Smith. Die Erkenntnisse aus dieser Studie werden zum Teil bestätigt, zum Teil erweitert durch weitere Studien und empirische Untersuchungen.

  • Forschung und Empirie lassen Schlüsse darauf zu, wie sich Resilienz ausbildet und zeigt. In diesem Kontext wird auch von „Schutzfaktoren“, zuweilen auch von „Erfolgsfaktoren“ gesprochen. Unabhängig von der Anlage-Kultur-Debatte, von Grundmodell und Akzent wird immer wieder hervorgehoben, dass Resilienz etwas zu Entwickelndes, Dynamisches ist, Metamorphosen durchläuft und lebenslang erlernbar ist.
  • Resilienz bildet sich in unterschiedlichen Phasen des Lebenslaufs in unterschiedlicher Prägung aus.
  • Ein Schutzfaktor A ist im Kontext X relevant und hochwirksam, im Kontext B bereits weniger oder gar nicht: Welche Fertigkeit als resilient gilt bzw. Resilienz ausmacht, welche persönlichen, sozial vermittelten, erlernten Strategien aktiviert und genutzt werden und wie sie wirken, verändert im individuellen Lebenszyklus und je aktuellen Umfeld. Das, was einem Menschen innerhalb einer Phase hilft, beispielsweise das Verdrängen von schrecklichen Ereignissen, kann in diesem Moment sinnvoll sein und dazu beitragen, an Belastungen nicht zu zerbrechen, sondern zu wachsen oder zu reifen, während in einer anderen Lebenssituation gerade das Aussprechen und Schildern, das Erzählen und andere expressive Formen darin unterstützen, das Bedrohliche konstruktiv (für den weiteren Lebensweg) zu verarbeiten. Kurz formuliert: Das, was in einer Phase und Situation als resilient gilt, kann in einer anderen gegenteilig wirken.
  • Relevanz, Art und Wirkung von Schutzfaktoren korrelieren offenkundig mit Phasen und Übergängen im Lebenszyklus, mit je aktuellen Bedürfnissen und Interessen, mit Umfeldfaktoren sowie mit dem persönlichen Entwicklungsstand und Profil.

Als wesentliche Schutzfaktoren gelten bis anhin diese folgenden. In der Kategorisierung folge ich Emmy Werner, die zwischen individuellen Schutzfaktoren, jener in der Familie und jenen im Umfeld differenziert.

Individuelle Schutzfaktoren wirken von Kindheit an. In den früh prägenden Jahren von Kindheit bis Frühpubertät fallen resiliente Kinder v.a. durch Eigenheiten im „Temperament“ (grundlegende Einstellungsdisposition zur Welt) auf, besonders dadurch dass sie von Bezugspersonen und im weiteren sozialen Umfeld als freundlich, empathisch, anderen zugewandt, als aktiv, fröhlich, aufgeschlossen, anschmiegsam wahrgenommen werden. Diese Eigenheiten werden bestärkt, weil sie als angenehm, erstrebens- und belohnenswert erfahren und die Kinder in ihrem Verhalten daher bestärkt werden (belohnt).

Aufgrund der motivierenden Zuwendung ist der Befund plausibel, der besagt, dass resiliente Kinder im Vergleich zu weniger oder nicht resilienten Peers in ihrer motorischen, kognitiven, verbalen Entwicklung weiter entwickelt sind. (Das ist empirisch immer wieder auch in anderen Kontexten bestätigt worden, etwa im Bereich Lehrer-Schüler-Interaktionen.)

Für die anschließende Pubertätsphase bis zur Adoleszenz zeigen sich die Früchte solcher Erfahrungen. Hervorzuheben sind der Glaube an die eigene Wirksamkeit, die Überzeugung von sich selbst als (pro-)aktiv Handelndem (Selbstwirksamkeits- und Coping-Forschung) sowie eine eher pragmatische als idealistische Sicht auf die eigene Zukunft (Realisierbarkeit, begründete realistische Zukunftssicht). Im weiteren Verlauf des Lebens wird diese Basis in der Regel ausgebaut und durch weitere Bildung, Ausbildung, Beruf, Gründung einer eigenen Familie, zuweilen auch durch religiöses Engagement gestärkt, erweitert, bereichert.

Familiäre und soziale (Umwelt-) Schutzfaktoren fördern Resilienz durch eine verlässliche emotionale Bindung an zumindest an eine Person innerhalb der Verwandtschaft, die als Identifikationsfigur oder Modell dienen kann. Das wird auf nicht-verwandtschaftliche Personen ausgedehnt. Besonders bedeutsam erweist sich neben der Unterstützung von Mitgliedern der Peer Group(s) diejenige nicht verwandter Personen, deren Zuwendung als zuverlässig, bindend und daher hilfreich erlebt wird. Eine familiäre Kultur, die das Ausdrücken von und Sprechen über Gefühle eher ermuntert als unterdrückt, deren Strukturen transparent sind und in der Entscheidungen nachvollziehbar getroffen werden und bindend sind, unterstützt ebenfalls dabei, das „seelische Immunsystem“ auszubilden bzw. zu aktivieren und sozial anerkannte, persönlich hilfreiche Strategien zu entwickeln, um Krisen zu bewältigen und aus ihnen gestärkt hervorzugehen.

Zunehmend im Rahmen des „biopsychosozialen systemischen“ Ansatzes geforscht, um psychologische und soziale Schutzfaktoren zu ergänzen um biologische, (molekular)genetische und andere materielle Faktoren und Prozesse, die als Moderatorvariablen fungieren könnten.

Ein Desiderat liegt in der näheren Betrachtung des Beitrags zu persönlicher Resilienz im Zusammenhang mit Weltanschauung und Lebensphilosophie. (Hier kann man an Wirkungsweisen religiöser bzw. metaphysischer und – im weitesten Sinn - meditativer Praktiken anknüpfen.)

Ein weiterer zu erforschender Zweig gilt der Wirkung von aktiv prosozialem konkretem Handeln: ein Handeln, dass das Gegenüber (Einzelne, Gruppen) in den Vordergrund der Lebensführung rückt, also Für-Sorge statt Selbst-Sorge zentriert. Personen, die in helfenden Berufszweigen tätig sind, könnten als Untersuchungsfeld lohnend sein in Bezug auf die Frage, inwiefern sie ihr fürsorgliches Tun selbst als Stärkung erfahren und durch das Helfen-anderer erweiterten bzw. anderen Zugang haben zu Strategien, mit besonders kritischen bis traumatischen Situationen, mit dauerhaften Schwierigkeiten umzugehen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Denn neben dem so genannten Helfersyndrom, das professionelle Helfer vorzugsweise als Opfer begreift (von sich selbst: Scheitern an eigenen Ansprüchen, von äußeren Faktoren: Personalmangel, Infrastrukturdefizit, Unterbezahlung etc.), entwickeln sie gleichsam Überlebensstrategien; und jene, die „trotz allem“ ein fröhliches Gemüt haben, Fantasie in der Arbeit zeigen und ähnliche positive Zeichen setzen, die sich also weder selbst verausgaben noch zerbrechen, sondern „die Herausforderung lächelnd oder auch zähneknirschend annehmen“: diese Personen verfügen offenbar über Optionen in Denken, Fühlen, Handeln und Selbststeuerung, die Resilienz fördern. Von ihnen lässt sich lernen.

Einige „Tipps“, persönliche Resilienz zu entfalten bzw. zu stärken
Populär sind die so genannten sieben Säulen, die eher ein kategoriales Repertoire an Optionen bezeichnen und auch als Ressourcen benennbar sind, die ein Mensch in sich selbst und im Außen finden und „anzapfen“ kann. Die Optionen überlappen sich, hängen zusammen, wechselwirken, beeinflussen einander. Das gilt auch für die von mir ergänzte achte Bereitschaft, Fähig- und Fertigkeit: kognitive Wachheit, kombiniert mit dem Ehrgeiz, mit Ungewissheit lebensbejahend umgehen zu lernen – und dabei immer auf dem Weg zu sein.

  1. Optimismus leben: Hier ist nicht ein ungezügelter bzw. luftiger Optimismus gemeint (von dem bekannt ist, dass er genau gegenteilig wirken kann), sondern ein begründeter, einer, der auf Fundamenten beruht, die sich eine Person bewusst macht. Es sind Grundeinstellungen, Grunddispositionen, die maßgebliche Wirkungen zeitigen. Konkret: Lebensgrundhaltung, - philosophie, Glaube, Überzeugungen, die gleichsam das Vorzeichen des individuellen Lebens sind, die Grundfarbe, in der sich das Leben zeigt. Je nach Färbung dieser Grundlagen gelingt es einem Menschen, grundsätzlich zuversichtlich zu bleiben, insbesondere dann, wenn man Erfahrungen bedenkt, die zeigen: „Krisen gehen vorüber“, idealiter kombiniert mit der Motivation, zu lernen, das persönliche Repertoire zu erweitern. Etwa gemäß der Überzeugung: „Es hilft immer, zu schauen, was ich aus einer Krise lernen kann, um zukünftig besser gewappnet zu sein“.

  2. Geschehenes Akzeptieren: Annehmen ist nicht identisch mit einverstanden sein. Sondern als Gegensatz konstruiert dazu, mit einem Geschehen zu hadern und sich in einer negativen Eskalationsspirale zu befinden. Das Annehmen zeigt sich in der Gegenwärtigung, Geschehenes nicht ungeschehen machen, sondern immerhin konstruktiv wenden zu können. „Das ist mir nun einmal passiert - was kann ich also Hilfreiches tun?“ Es gilt der Dreischritt: Widrigkeit anerkennen, analysieren, Optionen ausloten und probieren – und schlussendlich eine (neue, veränderte) Strategie zu definieren und zu praktizieren. (Als Formel kann die der Trauerarbeit helfen.)

  3. Selbstwirksamkeit entfalten: Eine ausgeprägte Selbstwirksamkeit meint, dass man überzeugt ist (oder zumindest so agiert), dass man maßgeblich Einfluss ausüben kann. Man begreift sich grundsätzlich als Akteur, als Täter, als Gestalter oder Macher. Dies ist konstruiert als Gegensatz dazu, sich als Opfer zu empfinden (von Personen, Umständen etc.), sich zu bemitleiden oder auch, sich schuldig zu fühlen und in Selbstanklagen zu ergehen. All dies hilft nicht, handlungsfähig zu werden (oder werden zu wollen). Gegenteilig wirkt das Selbstverständnis als Akteur, der gestalten, beeinflussen, maßgebliche Beiträge leisten und insofern Kontrolle wiedererlangen kann, sich das begründetermaßen zutraut und möchte. Dabei kann man nach internen Ressourcen fahnden und gleichzeitig im Außen schauen, etwa nach Vorbildern/ Modellen suchen, Kontaktaufnehmen zu hilfreichen Personen, Gruppen, Organisationen, und auch eigene Weiterbildung betreiben und den eigenen Horizont weiten, insbesondere durch Lektüre von Sachliteratur ebenso wie Belletristik (Romanen, Biographien etc.), durch das Anschauen von Filmen, Besuchen von Ausstellungen etc.. 

  4. Verantwortung übernehmen: Für etwas einstehen, an dem man maßgeblich beteiligt ist, einschließlich der Konsequenzen. Verantwortung übernehmen bezieht sich auf eigenes Tun und dessen Folgen. Der Blick richtet sich stets auf den eigenen Beitrag zu einem Geschehen und damit auf Optionen (Strategien), Wirkungen oder Folgen wahrscheinlich zu machen, die man verwirklichen möchte. 

  5. Ziel-, Lösungsorientierung: Menschen bestärkt es, wenn sie Erfolge haben, wenn sie „etwas geschafft“ haben. Die Wahrscheinlichkeit, eine erwünschte Ernte einzufahren, steigt, wenn man sich auf etwas, hier: die Aufgabe, etwas Konkretes zu verbessern, konzentriert (im Gegensatz zum Sich-Verzetteln, dem Wandern auf Nebenpfaden, dem Nachgeben von Ablenkungsreizen etc.). Um selbst wirksam zu werden (s.o.), hilft es, zunächst den eigenen Anteil an der Misere herauszuschälen und nach alternativen Optionen zu suchen, die dem Ziel dienen. Der Blick gilt dem Ziel, dann erfolgversprechenden Wegen dorthin und schlussendlich dem entsprechenden Handeln. Dabei ist es unerheblich, ob man Muster im Denken oder Fühlen anvisiert oder etwas Äußeres wie die Verbesserung des Arbeitsklimas im eigenen Team. Die Formel, das Schema und damit die Fragestrategie ist immer gleich. Der Fokus richtet sich auf den aktuellen Anlass, die Fragen lauten: Was kann helfen? Worin kann mein Beitrag liegen bei der Lösung oder beim Erreichen des Ziels? Welche Wirkungen möchte ich aus welchen Gründen (mit) herbeiführen? Auf diese Weise behandelt man nicht nur das Aktuelle, sondern erweitert das Repertoire in Fühlen, Denken, Handeln. 

  6. Zukunftsperspektive perforieren: Wenn ich von Perforieren spreche, dann im Gegensatz zu Planung im traditionellen Verständnis. Es geht um eine Perspektive, die ich anstrebe, die mir Richtung und das Erstrebte in groben Zügen zeigt – und gleichzeitig Veränderungen gegenüber offen ist. Das gilt für den Lebensentwurf ebenso wie für die Erweiterung persönlicher Fertigkeiten. Man kann auch sagen: Es geht um einen Blick auf Optionen im Sinn von „Was tue ich, wenn….?“. Das Denken in oder Imaginieren von Szenarien erweist sich als Möglichkeit, sich innerlich (mental, psychisch) vorzubereiten, Strategien zu entwickeln, um im Rahmen des Wünschbaren reagieren zu können

  7. Netzwerke nutzen: Menschen sind eben nicht absolut der Schmied ihres Glücks, sondern sind immer schon in Rahmenbedingungen geworfen, an deren Herstellung sie nicht beteiligt waren. Menschen wechselwirken zudem mit anderen Menschen und stehen in Beziehung. Das Nutzen von Netzwerken regt dazu an, zu überlegen, welche Beziehungen sie zu anderen Menschen, Gruppen, Institutionen eingehen, aktivieren, pflegen, sollten, um dabei zu assistieren, resilient zu werden. 

  8. Kognitive Wachheit und das Bewusstsein, immer auf dem Weg zu sein: Kognitive Wachheit bezeichnet Freude an einem verstehen-wollenden Denken (im Gegensatz zu einem primär urteilenden). Das Bewusstsein, immer auf dem Weg zu sein, verweist darauf, dass Wünsche offen bleiben, wir uns an auch überraschende Realitäten anpassen, Wünsche und Optionen justieren müssen – als Facetten des menschlichen Lebens. Zusammen helfen sie, sowohl Ambiguitätstoleranz zu erhöhen als auch Frustrationstoleranz. Beides, das Dulden und Akzeptieren des Umstandes, dass Unterschiedliches, selbst Widersprüchliches gelten kann, und das Faktum, dass Scheitern zum Leben gehört, nähren innere Widerständigkeit, indem sie weiteren hilfreiche Fähig- und Fertigkeiten zur Geburt verhelfen, insbesondere Gelassenheit und eine Grundhaltung, Widerfahrnisse zu nehmen, wie sie kommen, und bestmöglich mit ihnen umzugehen: in einer lebensbejahenden Weise.

Persönliche Resilienz zu entwickeln, ist kein Spaziergang. Es ähnelt eher einem Hürdenlauf, in dessen Verlauf die eigene Geschicklichkeit zunimmt und umgeworfene Hürden (Scheiternerfahrung) schlicht als dazugehörig angenommen werden. Eine Lebensphilosophie und -praxis, die dies einwebt, eröffnet die Möglichkeit, nicht „das Perfekte“ anzustreben, sondern das, was sich ein Mensch wünscht und leisten möchte und kann. Resiliente Menschen wählen aus. Sie entscheiden im Bewusstsein, dass jede Entscheidung für das Eine eine Entscheidung gegen alles andere auch noch Mögliche ist – und sie sind zufrieden damit. 

Theorie versus Big Data, Probierkultur, Nudge

am Mittwoch, 24 August 2016.

Die Frage

Die folgenden Überlegungen zeigen erste Schritte in eine hoffentlich einsetzende Debatte. Sie entzünden sich an der mehr oder weniger schleichenden, jedenfalls verbreiteten Ersetzung von theoretischer Grundlegung durch Big Data, Probierkultur und Nudge-Praxis. Zu verzeichnen sind bereits Auswirkungen in politischer Gesellschaftslenkung und wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Betroffen ist somit auch Führung. Die Grundlogik möchte ich anhand von Führungshandeln in Organisationen, vornehmlich Unternehmen, exemplifizieren. 

Die erkenntnisleitende Frage lautet, inwiefern es sich Führungspraxis auf Dauer leisten kann, auf theoretische Rahmung und damit auf Erklärungen, Verstehen und darauf basierte Gestaltung von Führung zu verzichten und in reinen Pragmatismus abzugleiten. „Anything goes“, proklamierte Paul Feyerabend einst im Rahmen von Erkenntnistheorie, aus dem Feld angewandter psychologischer Modelle ertönte: „Das, was funktioniert, wird getan.“ Man kann die Probierkultur, die sich in Unternehmen ausbreitet, sowie die Verhaltenskonditionierung durch Nudges, als Ausfluss der Konvergenz dieser Haltungen sehen. Probieren und Schubser in die gewünschte Richtung werden durch Daten (Big Data, Smart Data) legitimiert.

Inwiefern das genügt, um Unternehmen und andere Organisationen nachhaltig erfolgreich zu führen, ist eine dringende Frage. 

(Anmerkung: Unberücksichtigt lasse ich in diesen Überlegungen Faktoren, die verdeutlichen, weshalb es dringlich ist, die Frage nach Theorie zu stellen. Etwa dann, wenn man die primäre (Kindheit), sekundäre (Adoleszenz, Bildungsinstitutionen), tertiäre (Beruf) Sozialisation via Digitaler Technologien, Internet, Smartphone und Apps/ Assistenzsysteme, via Games/ Gamification und selbstlernender Systeme (Künstlicher Intelligenz, Emotional Computing) in die Betrachtung einschließt.)

Big Data und Theorie

Der Sieg selbsttätiger Zusammenführung von Daten verschiedener Quellen und Mustersuche scheint besiegelt. Das hat Konsequenzen – wünschenswerte, weniger wünschenswerte und schädliche. Als nicht wünschenswert bis schädlich erscheinen mir Folgewirkungen auf Theorie, was ich am Beispiel von Führung konkretisieren möchte. 

Im Umfeld von Big-Data- und Digitalisierungs-Euphorikern wurde bereits das Ende der Theorie ausgerufen. Empirie und Evidenzbasierung genüge, so heißt es. Empirie meint in diesem Kontext: Eine unüberschaubare Menge an Daten läuft über Programme, die über Korrelationen Muster und Cluster entdecken, die wiederum als Basis von Handlungsmaximen und Interventionen dienen. 

„Im Jahr 2008 prägte Chris Anderson – damals Chefredakteur der Zeitschrift „Wired“ – den Begriff des „Petabyte Age“: Im Angesicht einer alle Gegenstandsbereiche betreffenden, in den „Clouds“ gewaltiger Datenfarmen gespeicherte, zuvor ungekannten Menge digitaler Big Data erschlössen nicht nur Suchmaschinenfirmen und soziale Medien ganz neue Wissensbereiche. Es stehe gar die Googleisierung der gesamten Wissenschaft an – und damit „das Ende der Theorie“. Denn immer feinziseliertere Algorithmen würden, so Anderson, Muster finden und Zusammenhänge erkennt bar machen, auf die kein klassisch vorgehender hypothesengeleiteter Wissenschaftler gekommen wäre: Die computerisierte Suche nach  Korrelationen in Daten könne die Frage nach Kausalitäten und kohärenten theoretischen Modellen ersetzen: „With enough data, the number speak for themselves“, so Anderson.“ (Vehlken, Sebastian: Gibt es bald mehr Antworten als Fragen? In: FAZ 6.8.15, S. 12) 

Exakt dies tun Nummern, Zahlen, Daten eben nicht. Denn sie müssen interpretiert werden. Dazu braucht es Vorannahmen und Fragen, die für jede (menschliche, algorithmisch-maschinelle) Deutung und Auswertung unverzichtbar sind. Grundannahmen, Laientheorien, Glaubenssätze und Überzeugungen fungieren als Schablone, Filter, Brillenglas, um Daten lesen, Muster erkennen zu können. In diesem Sinn ist Sebastian Vehlken zuzustimmen, der zu der Pflicht anhält, sich zu vergegenwärtigen, „was Daten sind, wie sie medientechnisch produziert werden, welchen Verzerrungen sie unterliegen, auf welchen Grundannahmen ihr retrieval beruht – und welche von Software generierten Korrelationen z.B. kompletter Unsinn sein mögen. Computer quantifizieren nur das, was quantifizierbar ist. Und sie berechnen nur das, was im Bereich der Berechenbarkeit liegt.“ Folglich „gilt auch weiterhin, datengetriebene Ansätze mit guten Fragen zu rahmen, die weiter weisen als auf reine Positivitäten: Fragen, die das Quantitative mit dem Qualitativen verbinden.“

Die Dekontextualisierung datenpuristischer Betrachtung braucht weitere Korrektive. Der Blick auf Entstehungs-, Wirkungs- und Verwendungszusammenhänge ist ebenfalls nötig, um zu verstehen, in welchen Hinsichten Daten (Cluster, Korrelationen) was erklären (helfen) können und inwiefern sie welche Voraussagen machen bzw. Gestaltungsempfehlungen geben können. Diese Gesamtleistungen erbringt grundlegend Theorie, durchaus im Verbund mit Empirie.

„Data driven Sciences“ und das Vorliegen voluminöser Datenmengen bewegen sich im Umfeld eines empiristisch-positivistischen, auch pragmatischen Ansatzes. Sie befördern das Missverständnis, dass Daten Informationen und diese Informationen Wissen sind, das gewinnbringend unmittelbar angewandt werden kann. Dabei steht Utilität im Vordergrund: in der Form geldwerter Vorteile („Nützlich ist, was monetarisiert werden kann.“) sowie in der Form von Handlungsanleitungen („Nützlich ist, was effektvoll getan wird.“) Theorie erscheint hier als Wolke, als nebulöses und abstraktes Ideelles, das für die Praxis entbehrlich ist. 

(Anmerkung: Neuerdings erstreckt sich diese Auffassung auf die Notwendigkeit von Strategien. Sie seien angesichts der Schnelllebigkeit und gebotenen Beweglichkeit (Agilität) obsolet. Statt Strategie wird vehement für Inkrementalismus, Muddling Through und adhocratisches Anpassen an veränderte Gegebenheiten, gern verknüpft mit „Disruption“, proklamiert. In diesem Kontext erscheint seit kurzem die Forderung, Führende müssten Ambidextrie realisieren. Diese „Beidhändigkeit“ zielt zum einen darauf, sowohl das Optimieren des Vorhandenen als auch Innovation zu betreiben. Das ist keine Novität. Das Neue ist lediglich, dass Ambidextrie die Verbindung, Parallelität bzw. das Sowohl-als-auch von konventioneller analoger und digital-transformativer Unternehmensführung betont. Die Logik ist alt, der Inhalt ist neu. Die behauptete Verzichtbarkeit von Strategie ist keinesfalls theoretisch oder theoretisch-empirisch fundiert, sondern entspringt bestenfalls Erfahrungen und Vermutungen von Personen, die sich am Zeitgeist des Probierens orientieren, Geschwindigkeit für einen Wert an sich halten und glauben, Überlebensfähigkeit und Nachhaltigkeit von Unternehmen seien ausschließlich gebunden an adhocratische opportunistische Echtzeitanpassung.)

Einer der intellektuell scharfsinnigsten Begleiter digitaler Transformationsphänomene und –prozesse (Internet der Dinge, Industrie 4.0, Gesellschaft 4.0), von Plattform-Revolution und wachsender Internetreligiösität („Solutionism“) ist Evgeny Morozov. Seit Jahren erläutert er unter anderem, inwiefern Informationalisierung, die Verrechnung von quantitativen und qualitativen (z.B. sozialpolitischen) Prozessen, Strukturen, Phänomenen sowie der (Technik-) Glaube, die richtige App sei die Lösung von Problemen, unweigerlich das Ende von Theorie gerade auch in der wirtschaftlichen und politischen Praxis zur Folge haben wird bzw. bereits hat. 

Statt theoretisch geleiteter Fragen, Hypothesen, logisch deduzierter Erklärungs- und Voraussagehypothesen dominieren in praxi auf Utilität geeichte pragmatische Modelle und Methoden. Im Vorhinein theoretisch fundierte, überlegte, reflektierte, projektierte Handlungskonzepte weichen einer konditionalen Logik, die inkremental, agil, disruptiv dem Trial and Error-Verfahren (Probierkultur, Design Thinking) huldigt und auf der Verhaltensebene der verhaltensökonomischen paternalistischen Nudge-Psychologik gehorcht. 

Nudge

Nudge ersetzt Selbstdenken, selbstständiges, eigenverantwortliches, reflektiertes, kurz: verstehen-geleitetes Handeln. Statt auf Verstehen gegründetes Handeln dominiert „geschubstes“ Handeln, ein Handeln, dass vorzugsweise auf Incentives (naheliegende, bequeme Rahmenbedingungen, digital oder via App, Prozessführungs-, Assistenzsysteme, Kollaborations-, Kommunikationstools etc.) antwortet. Man nimmt den Pudding in der Cafeteria nicht, weil er hinter Obst steht und schlecht zu erreichen ist – aber nicht, weil man meint, Obst tue der eigenen Gesundheit besser. Und man definiert in einem Projekt Meilensteine oder formuliert die Dokumentation nicht nach Maßgabe faktischer Erfordernisse, sondern weil das Programm dies vorgibt.

Es gibt weitere Probleme, die auch für Führung Folgewirkungen zeitigen. Harald Staun hat dies – unter Rekurs auf internetkritische Autoren – in seinem Artikel „Wie wir gern leben sollen“ (FAS 31.08.2016) plastisch dargestellt. Die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland, präziser: das Kanzleramt entschied sich 2014, dem Nudge-Ansatz des Ökonomen Richard Thaler (University Chicago) und des Juristen Cass Sunstein (Harvard) zu folgen. Publiziert haben sie „Nudge“ im Jahr 2008. Das Kanzleramt suchte im August 2014 drei Personen mit „„psychologischen, soziologischen, anthropologischen, verhaltensökonomischen bzw. verhaltenswissenschaftlichen Kenntnissen“ (Staun ebd.). Die Arbeit bestehe darin, die „Entwicklung alternativer Designs von politischen Vorhaben auf der Grundlage qualitativer Situations- bzw. Problemanalysen“ voranzutreiben, offenkundig analog dem britischen „Behaviorial Insights Team“, das der ehemalige britische Premierminister David Cameron nach seiner Nudge-Lektüre 2010 installierte. Verhaltensforscher sollen „Schubser“ (Nudges) konzipieren, die die Adressaten zum gewünschten Verhalten sanft lenken. Dieser sanfte und in der FAZ seit Jahren äußerst kritisch kommentierte „sanfte Paternalismus“ wirkt unmittelbar und unbewusst verhaltensmodulierend. Der Freiraum von Wahl und Entscheidung wird bewusst konditioniert, so dass, Alternativen außerhalb der offerierten Optionen (zumindest bei intuitiven, emotionalen Wahlen) wegfällt.)

Nudge und Big Data

Nudging und der Wegfall bzw. die Abwertung von Theorie haben (u.a.) gemeinsam, dass Handeln dekontextuiert wird. Politisches Agieren im Sinn gesellschaftsgestaltender Arbeit wird reduziert auf ein Arrangement oder „Management individueller Aktionen“ (Staun ebd.). Dieses Management verfolgt einen geheimen Lehrplan (hidden agenda), der im Namen des Gemeinwohls subjektive Entscheidungen lenkt. Dekontextualisierung geht mit Depolitisierung Hand in Hand. Es gibt keine strukturellen oder systemisch bedingten Probleme mehr, sondern nur noch individuelle. „Nicht die falsche Arbeitsmarktpolitik führt zu Arbeitslosigkeit, sondern Trägheit“ und hier setzt Nudging an. „Die einzige Aufgabe für die sich der Staat zuständig fühlt, ist die Optimierung der Entscheidungen seiner schlecht informierten Bürger.“ (Staun ebd.). Das ist eins zu eins auf Unternehmen übertragbar.

Eine weitere Gemeinsamkeit der Konzentration auf Big-Data-Empirie und Nudge liegt in der ideologischen Rahmung und damit in Zielen. Der Begriff des Managens (Handhaben) trifft die Einstellung recht passend. Mit dem Glauben, alles lasse sich verrechnen und damit via App lösen, geht der Glaube an das Im-Griff-Haben einher. Es ist die „Utopie einer perfekt zu managenden Gesellschaft“ bzw. Unternehmen, obgleich das Gegenteil tagtäglich zu beobachten ist. 

Problematisch ist die Enttheoretisierung und Reduktion auf Daten, Informationen, indem der Fokus nur noch auf Pragmatik liegt, die ohne Kausalanalysen und Theoriebildung Handlungsanleitungen gebiert. Gründe, warum etwas wie wo wirkt und in welchen Kontexten, werden nicht mehr gesucht. Das Denken verharrt in der durch Daten aggregrierten Faktizität und entzieht sich der Analyse durch pure Messbarkeit, etwa von sozialen Interaktionen, die via Bewegungs- und Entscheidungsmuster steuerbar sind. Ein so mechanistisches Welt- und früh-behavioristisches Menschenbild zeigt sich in der Idee und Umsetzung von „Social Physics“ von Alex Pentland, Physiker am MIT-Media Lab. 

Führung ohne Theorie

Konsequenz in der Führung: Statt auf (Führungs-) Theorien wird auf praktische Modelle und Konzepte gesetzt. Dass wie bereits tradierten Konzepten und Modellen, wie Oswald Neuberger zeigt, auch den neueren oder neu verkleideten alten die theoretische Basis fehlt, stört immer weniger. Die so genannte Probierkultur hat den Thron bestiegen, zusammen mit purer Pragmatik und dem Geist des Anything goes in Kombination mit Erfolg: das, was wirkt, wird gemacht. Das kann gut gehen (funktionieren) in einzelnen Kontexten. Doch wenn kausale Zusammenhänge unklar sind, wächst mit jedem Probieren das Risiko des Fehlschlags und damit von Mehrkosten, sowohl monetär als auch psychologisch und motivational. (Denn jeder Fehlschlag erzeugt – selbst bei anfänglichem Neubeginn-Enthusiasmus – Frustration. Sobald sich Fehlschläge häufen, wird Veränderung negativ konnotiert, was wiederum Mut und Motivation für Veränderung/ Innovation reduziert.)

Der alleinige Fokus auf Praktikabilität und kontextspezifisches Probieren ist selbst im Fall des Gelingens ein Mangel. In praxi erfahrbar, wenn Modelle/ Konzepte angewandt werden, erhoffte Effekte zunächst wie erwünscht zu wirken scheinen, spätestens indes bei Veränderung von Variablen ausbleiben. Beispiele sind das Dogma des kausalen Zusammenhangs von „guter (wahlweise partizipativer, kooperative, empathischer…) Führung“ und „guten Ergebnissen“, von „demokratischer Unternehmenskultur“ und „unternehmerischem Erfolg“, von „Selbstverwirklichungschancen am Arbeitsplatz“, „motivierter Mitarbeit“ und „Unternehmenserfolg“. Vor einigen Jahren galten selbst „Angst“ oder „Paranoia“ als Bedingung der Möglichkeit für „Unternehmenserfolg“. Gegenwärtig ersetzt durch Spiel und Spaß.

Nutzen von Führungstheorie

Kurz gesprochen, treten Führungstheorien an, zu klären, unter welchen Bedingungen und aus welchen psychologischen, kognitiven, mentalen, sozialen, sozio-kulturellen, wirtschaftlichen Gründen und in welchen Kontexten Menschen sich in welcher Weise führen lassen und führen. Sie erforschen, welche äußeren und inneren Bedingungsgefüge vorliegen müssen, um Erfolg kausal attribuieren zu können. Dies ist ein äußerst kompliziertes, vielleicht unabschließbares Unterfangen, weil Führungstheoretiker es mit Komplexität z tun haben: von Individuen, Gruppen, Unternehmen/ Organisationen und ihrer Interaktion mit der Umwelt, die ihrerseits verschiedene Teilsysteme aufweist, die untereinander interagieren und mehr und weniger auf Führende und Geführte einwirken. Hinzu kommen verschiedene Quellen von Diversität, etwa generative, kulturelle, spirituell-religiöse. Genau deshalb fällt die Landschaft der Führungstheorien vielfältig aus. Es gibt betriebswirtschaftliche, verhaltensökonomische, handlungstheoretische, systemische, kulturwissenschaftliche Führungstheorien, um einige zu nennen.

Warum sich dieser Schwierigkeit widmen, wenn man doch einfach das nehmen kann, was sich in der Erfahrung zeigt? Warum sich nicht mit Modellen und Konzepten begnügen, die auf „Daten“ beruhen?

Eine knappe Antwort lautet: Führungstheorien sind Aussagensysteme, die– Wirkungsbeziehungen bzw. deren Determinanten erkennen und neben Beschreibungen des Status Quo Voraussagen über Wahrscheinlichkeiten machen, welche Art des Führungshandelns in welchen Kontexten mit welchen Anforderungen an die Akteure den gewünschten Erfolg in Aussicht stellen. Theorien ermöglichen zunächst einmal Verstehen. Und da dasselbe Phänomen (z.B. nachhaltiger Erfolg eines Unternehmens) in verschiedenen Kontexten verschiedene Wirkungen zeitigen und aus verschiedenen theoretischen Perspektiven betrachtet werden muss, sind verschiedene Parameter einzubeziehen. 

Beispielsweise führt systemische Theorie nachhaltigen Erfolg u.a. darauf zurück, dass die Akteure am und nicht im System arbeiten, also auf Austauschbarkeit setzen, Wechselbeziehungen, Regeln und andere Bedingungen der Möglichkeit für Erfolg anvisieren, wozu auf individueller Ebene etwa das Erlernen selbstregulierten und –organisierten Arbeitens gehört. Aus handlungstheoretischer Sicht mag nachhaltiger Erfolg vorzugsweise der Empathie der Führenden zugeschrieben werden, während verhaltensökonomische Zuschreibungen primär die Anreize für produktives Arbeiten fokussieren.

Auf theoretischer Grundlage ist es möglich, gezielte Fragen zu formulieren (zu Entstehungs-, Verwendungs-, Wirkungskontext), zu beantworten und schlussendlich Begründungen zu destillieren, die handlungspraktisch in Konzepte, Modelle, Methoden münden. Konzepte und Modelle, als Ableitungen von Theorie, bringen Vorschläge für Handlung und Maßnahmen hervor. 

Theorie, Modell, Methode

Bezogen auf Führung: Insofern Modelle und Methoden eingebettet sind in theoretische Rahmen, stehen sie in einem logischen Ableitverhältnis. Sie geben deduzierte und begründete Anregungen, welche Maßnahmen und Verhaltensweisen Führende systematisch, intendiert und bewusst zeigen , veranlassen oder unterlassen sollten, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das jeweils gewünschte Ergebnis eintritt. Modelle und Methoden sind pragmatisch und praktisch orientiert. Metaphorisch gesprochen: Theorien und ihre Annahmen wirken im Hintergrund, während Konzepte, Methoden, Modelle auf der Bühne agieren.

Eine Methode steht für systematisches, nach Regeln und explizierbaren Annahmen planmäßiges Denken und Handeln, das dem Erreichen von praktischen Zielen dient. Eine Methode ist ein Modus des Vorgehens, eine Art Verfahrensanweisung, um Aufgaben einer bestimmten Klasse zu lösen bzw. Ziele zu realisieren. Vereinfacht formuliert: Ausgehend von konkreten Bedingungen, Annahmen und Zielen wird eine Methode gewählt, die beschreibt, mit welcher Folge von Maßnahmen und Schritten das definierte Ziel erreicht wird. (Jede Methode empfiehlt dafür spezifische Werkzeuge.) 

Jeder Theorie entsprechen Modelle und Methoden. Beispielsweise entspricht es der systemischen Führungstheorie, vornehmlich in Begriffen und Modellen von Komplexität (Prozesse, Dynamik, Unüberschaubarkeit, Ungewissheit, Wechselwirkung sowie Eigenlogik, Eigendynamik und Selbstregulation/organisation) zu denken. Entsprechend fallen Modelle und Methoden aus, etwa die Szenariotechnik oder das zirkuläre Fragen als Methode der kommunikativen Klärung. Diametral entgegengesetzt sind etwa die Eigenschaftstheorie der Führung und die Theorie charismatischer Führung. (Dazu vgl. mein Buch: „Unternehmen in der Führungsfalle“, Business Village Verlag.)

Verzichtet man auf theoretische Verankerung, tut man etwas, von dem man nicht weiß, warum „es“ wie funktioniert – und in welchen Kontexten eher bzw. weniger oder gar nicht. Der Wissensmangel hat einen Dominoeffekt. Denn Wissen baut eine Richtschnur auf, die u.a. dabei hilft, zu entscheiden, welches Verhalten im Führen und Geführtwerden zieldienlich, angemessen, weiterführend ist. Wissen befördert Autonomie: im Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln. Weiß eine Führungskraft, warum sie in Kontexten welchen Typs eher empathisch-geduldig auf Mitarbeitende eingehen soll als sachlich-nüchtern, oder in

Kontexten welchen Typs es dem (Team-, Unternehmens-) Erfolg eher dient, wenn sie Kreativitätsräume bietet, dann kann sie Erfolgsaussichten systematisch erhöhen.

Der Verzicht auf Theorie riskiert, die Frage nach dem Sinn(zusammenhang) von Führungspraktiken unbeantwortet zu lassen. Theorien begnügen sich nicht mit reiner Empirie. Sie weiten den Verstehens- und damit Aktionsraum, diversifizieren ihn, ermöglichen differenziertes Handeln, während Big-Data-Anhänger auf Korrelationen starren, diese in Faktizität übersetzen, häufig mit dem Impetus eine Wahrheit gefunden zu haben, und anschließend – in der Regel nach Maßgabe von Behavioral Economics – intervenieren, um Verhalten zu modulieren. 

Unabhängig von dem Umstand, dass Korrelationen nur mit der Hilfe von theoriegeleiteten Fragen gelesen werden können, dominiert der Glaube, dass sich hinter Wechselbeziehungen kausale Relationen verbergen, die theoriefrei aufgedeckt und verwendet werden können und über spezifische Kontexte hinaus gültig sind. 

(Anmerkung: Hier sind nicht Laien- oder Alltags“theorien“ gemeint. Zwar haben auch sie die Funktion, Verstehen, Erklären und Vorrausagen zu ermöglichen, allerdings ohne allgemeingültige Überprüfungskriterien. Was sie von wissenschaftlicher Theorie unterscheidet, sind nicht nur die Gültigkeitskriterien, sondern auch die Verlässlichkeit von Erklärungen und Vorhersagen.) 

Wer auf Theorie verzichtet, verzichtet auf Verstehen, Perspektivenvielfalt im Verstehen und Erklären, Rekonstruierbarkeit und Vorhersehbarkeit, auf differenzierte Handlungskapazität. 

Eine der Pointen des Verzichts auf Führungstheorie liegt darin, sich um theoretisch-sinnhafte Verankerung von Führungsempfehlungen, die die Schwelle intuitiver oder emotionaler Plausibilität überschreiten, keine Gedanken machen zu müssen. Es genügt gleichsam das spontane Nicken. In diesem Sinn ist es folgerichtig, dass in einer Zeit, in der nach Führungstipps gesucht wird, weniger Theorien als praktisch anwendbare Methoden nachgefragt und angeboten werden. Zwar lässt sich über deren Wirksamkeit trefflich streiten, und auch Albernheiten kommen stolzen Hauptes in der Verkleidung neuer Erkenntnisse daher, etwa „deep work“ (konzentriertes Arbeiten) oder das „Begleitete Lernen“ (schlicht eine über Zuhören und offene Fragen charakterisierte Gesprächsführung mit der Rolle der Führungskraft als Lehrerin). 

Es ist die fast pubertär anmutende Begeisterung und Gläubigkeit, Agilität und Probieren seien die einzigen brauchbaren Antworten, um nachhaltig und erfolgreich wirtschaften zu können. Beide befördern die Verachtung für Theorie. Jedoch: Je weniger Theorie, desto mehr muss probiert werden, und je mehr probiert wird, desto größer die Wahrscheinlich von Zusatzkosten (Fehlleistungen, Korrekturmaßnahmen, Umschwünge etc.). 

 

Weiterbildung/ De-Psychologisierung/ Contra Gamification

am Mittwoch, 13 August 2014.

Weiterbildner bitte aufwachen!

Bisher folgen Weiterbildner vor allem den Hirten der digitalen Euphorie. Die folgenden Überlegungen sollen sie motivieren, anderen „Vorbildern“ zu folgen und Digitales klug, zielführend, verantwortungsvoll gemäß ihrem Auftrag einzusetzen.

Weiterbildner und Generation C (Connected):Bitte aufwachen! Mythen, Realitäten, Aufgaben einer konstruktiven Weiterbildung. Weiterbildner sollten aufwachen.

Ich richte mich an weibliche und männliche Berater, Trainer, Coaches, Referenten, die in Unternehmen und anderen Organisationen tätig sind. Aufwachen sollten sie aus der Trance des Mainstreams, aus Affirmation und Opportunismus rund um Ansprüche und Fremd-Selbstbildnisse „der“ Digital Natives, wahlweise Generation Y, Game, Connected.

Warum sollten sie aufwachen, sich die Augen reiben, an die Stirn greifen und kritisch fragen, nach-, über- und vordenken? Sie sollten es, a) angesichts ihrer politischen, gesellschaftliches Leben mitgestaltenden Wirkung, b) sofern sie ihre beratende, trainierende, coachende Tätigkeit verantwortungsvoll ausüben möchten gegenüber den Klienten, Einzelnen wie Gruppen, und im Rahmen des Kontextes, in dem sie ihren Auftrag erfüllen.

Die Trance: Digital Natives seien im Unterschied zu allen vorherigen „Generationen“ - besonders gut ausgebildet - kosmopolitisch - medienkompetent - multitaskingfähig - selbstorganisationsfähig - vernetzt – und können daher vernetzt denken und handeln - voller Potenzial - (positiv konnotiert) fordernd und wählerisch - (positiv konnotiert) auf Selbstverwirklichung aus - selbstbewusst und „alles hinterfragend“ - revolutionär (revolutionieren Führung von Menschen und Unternehmen).

Diese Glaubenssätze werden als Fakten gehandelt. Die mediale Permanent-Wiederholung dieser anbiedernden Überzeugungen genießen Wahrheitsstatus.

Die wenigen kritischen Stimmen aus Unternehmen und von Persönlichkeiten wie Jaron Lanier, Nicholas Carr, Jonathan Ziitrain, Sherry Turkle, Evgeny Morozov, Roland Murgerauer, Martha Nussbaum, Manfred Spitzer, Norbert Bolz, Gyung-Chul Han werden zwar von dem einen oder anderen gelesen und gehört, und der eine oder andere Artikel, das eine oder andere Interview wird publiziert. Die Resonanz bleibt bescheiden, und wenn die Kritiker nicht beschimpft oder verbal attackiert werden, dann zumindest mit einem mitleidigen Blick betrachtet und als Ewiggestrige, als Unpostmoderne, geistig Hintengebliebene oder Alarmisten denunziert.

Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit ihren Argumenten und empirischen Daten verhält sich umgekehrt proportional zur Wiederholung des Hohelieds auf die Segnungen digitaler Technologie, mobiler Nutzung und Gamification, die die digital-mobil Eingeborenen zu einer überlegenen menschlichen Art machen, hie und da mit Neuroenhancern optimiert und mit Aussicht auf, wenn schon nicht erwünschte, so doch akzeptierte, willkommene transhumanistische Perfektionierung. Kritiker, Warner, systematisch argumentierende Intellektuelle bleiben bedauerlicherweise weitgehend unter sich.

Selbst im Bereich der Bildung erschallende Rufe, die zu Nachdenklichkeit anregen, finden kaum Resonanz. Das gilt nicht nur für schulische Pädagogik, sondern auch für den Bereich inner-, außerbetrieblicher Weiterbildung.

Die Ignoranz um kritische Aspekte der skizzierten Trends und Moden und mit ihnen der Glaube daran, dass es für jedes Problem, für jede Aufgabe eine App gibt bzw. geben wird, die dann aus der Bredouille hilft, sind in diesem Milieu recht verbreitet. Und das, obwohl gerade Weiterbildner zu jenen gesellschaftlichen (Branchen-) Gruppen gehören, die eingedenk ihrer politischen und kulturellen Auswirkungen (Bildung als kulturell-politische Praxis) herausragend genau zuhören und hinsehen, mitdenken und disputieren sollten.

Jene, die das tun, beschäftigen typischerweise unter anderen (!) diese Implikationen und Folgerungen bezüglich

  • der Verinnerlichung algorithmischer Realitäten für Denken, Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn
  • des Daueronlinedaseins und Sich-Bewegesn in technisch vorgegebenen Rhythmen und Semantiken
  • der Lernbiographien, kognitiven Fertigkeiten, intellektuellen Reichweiten, persönlicher (Wahl-) Freiheit, Selbst-Bestimmung
  • der Veränderungen in Haltung und Handlung unter der Bedingung (noch: fast, bald: totaler) permanenter Überwachung (social networks, plattformen etc.;
  • sehr drastisch: Dave Eggers RomanThe Circle; entsprechendes Sachbuch: The Cube)
  • des „alten“ und „neuen“ Verständnisses von Bildung, Kompetenz und Didaktik - der Vorstellung von und Fähigkeit zu Demokratie und gesellschaftlicher Gerechtigkeit
  • der Anspruchshaltung gegenüber anderen Menschen und des individuellen Lebensentwurfs - der zunehmenden Affirmation von Vorstellungen rund um die Ideologie „totaler Transparenz“ (vgl. Chul….), Singularität und Immersion (vgl. Jaron Lanier, Evgeny Morozov)
  • der wachsenden Unfähigkeit, allein zu denken und zu sein (vgl. Sherry Turkle)
  • und damit des Trends hin zu Kollektividentitäten: Ich bin viele, weil es ein singuläres Ich im Sinn der Aufklärung/ Moderne nicht gibt; auch das Ich der multiplen Eigen-Iche trifft es nicht mehr; vielmehr meint Kollektividentität am ehesten das G.H. Mead`sche Me oder den „Schnittpunkt sozialer Kreise“ eines Georg SimmeL:

In dem Beitrag von Andrian Kreye: Diktatur der Perfektion in der Süddeutschen Zeitung vom 2.4.13, S. 11 findet sich eine knappe Übersicht über die bekanntesten kritischen Argumente: Bisher seien Netzkritiker als Kulturpessimisten beschimpft; deren bisheriger Schwachpunkt nach Auffassung von Andrain Kreye in der Beschränkung auf der Analyse von Risiken und Nebenwirkungen lägen:

  • Nicholas Carr: The Shallows und Schirrmachers Payback „führten den Beweis für den intellektuellen Sinkflug der digitalisierten Gesellschaft mit den Erkenntnissen der Hirnforschung“;
  • Laniers Essay Digital Maoism untersuchte die destruktive Macht der digitalen Masse mit dem Furor der Politikwissenschaft; angefügt seien die generalistischer angelegten Essays Gadget und Wem gehört die Zukunft?;
  • Sherry Turkle erforschte in Alone Togother die Vereinsamung in sozialen Netzwerken mit Hilfe der Soziologie; angefügt sei hier: Sherry Turkle wendet empirisch-soziologische Forschungsdesigns an, liest sie mit psychoanalytischer und sozialpsychologischer Brille und deckt nicht nur von den betroffenen jungen Menschen selbst empfundene Vereinsamung auf, sondern weitere, das Kognitive sowie das Erleben von Natur/ Natürlichem als Kreatürlichem (virtuelle Tiere sind sauberer als echte) und „analoger“ Mitmenschlichkeit betreffende Eigentümlichkeiten wie etwa das Vorziehen von SMS und anderen schriftlichen Nachrichten vor stimmlicher, weil diese einen „zwinge“, so eine Teenager, sofort und direkt zu antworten; 
  • Jonathan Ziitrain erklärte die gesellschaftlichen Auswirkungen in The Future of the Internet mittels technischer Details - Hinzugefügt seien Untersuchungen zu Sprache und Lesen, etwa Maryanne Wolf und Stanislav Dehaene (Neurowissenschaftler) sowie zum Kompetenzbegriff (Murgerauer).

 

Nach A. Kreye bringt erst Evgeny Morozov eine neue Qualität in den Diskurs der kritischen Stimmen. Jede der Kritiken verweise immer auf die Segnungen in verschiedenen Lebensbereichen wie Gesundheit, Bildung und feiere die Lösungskompetenz: Das Netz, so die Botschaft, wird für jedes Problem eine Lösung bringen – und zwar durch die Reduktion allen Geschehens und Agierens auf Information, die ihrerseits das Material der heute politisch und wirtschaftlich tonangebenden Unternehmen (Silicon Valley & Co).

Dem entgegen stehe das Buch des knapp 30-jährigen Evgeny Morozov: „To save everything, Click here: The folly of Technological Solutionism“. Der Autor übt hier – wie in seinen anderen Büchern und Kurzessays auch - Ideologiekritik der digitalen Kultur.

Solutionism ist eine Diktatur der Perfektion, die ihren Ausgang im Silicon Valley nimmt und unhaltbare, ungeprüfte Allgemeingültigkeits-Ansprüche und Heilsversprechen der digitalen Industrie und ihrer Propheten ausposaunt. (In seinem ersten Buch: The Net Delusion beleuchtet E. Morozov „das Internet“ in dem Gewand seiner Gefahr für nicht erwünschte Revolutionen, Entwicklungen, Folgewirkungen und wendet sich gegen die positive Mystifizierung und Identifizierung „Internet = gut“ und gegen den naiven Glauben, „das Internet“ „bringe“ Demokratie als eine Herrschaft des Volkes, in dem jeder einzelne mündig dafür sei.

Der Autor stellt – einfacher formuliert – heraus, dass der Hammer nicht nur zum Einschlagen eines Nagels für ein Bild, sondern auch zum Töten von Menschen benutzt werden kann. Das, was der Rezensent A. Kreye noch im April 2013 für paranoid hält, hat sich knapp ein Jahr später bewahrheitet – und zeigt, wie hilfreich es ist, sich mit digitalen Möglichkeiten und Optionen auszukennen (wie z.B. E. Morozov, dem er die Paranoia angedeihen lässt) und auch mit Akteuren und deren Mind Set vertraut zu sein (wie es Evgeny Morozov ist und wie es Jaron Lanier, der zudem als Informatiker bei Microsoft arbeitet, unzweifelhaft herausragend schildert).

Schlagworte wie Openness (Transparenz), Disruption (Zerstörung von Konventionen), Social (Pflicht der Vernetzung), Quantified Self (ständige elektronische Selbstbeobachtung und Fremdüberwachung), Immersion (Eintauchen in virtuelle Welten, die die Grenze zwischen analoger und digital hergestellter Realität verwässern), Singularität (Zusammenlaufen von technischer und psycho-physischer Identität via Technologie), Big Data (Datenkombinationen mit dem Ziel, Vorhersagen zu machen und diese als Fakten behandeln, so dass „prophylaktisch“ gehandelt werden kann, etwa im Fall von Krankheiten und Kriminalität) – euphorische Formeln einer entpolitisierenden, kontrollierenden, Verhalten kanalisierenden, Ansprache und Zuschreibungen individualisierenden Industrie, die versucht, alle Realität auf Information zu reduzieren (herausgearbeitet von Evgeny Morozov) und unter dem Vorzeichen von Entertainment, Perfektibilität, Sicherheit, Hygiene in Seele, Geist, Leib, Demokratisierung gesellschaftliches Leben seiner Differenzen und Freiheiten zu berauben und gleichzeitig zu verschleiern, dass es nur um eine technisch versierte bzw. kapitalkräftige Elite geht, die – vermittelt über digitale Medien, Gadgets, Apps & Co - diktiert, was die anderen zu denken, zu fühlen, zu tun und zu lassen haben (v.a. J. Lanier und E. Morozov).

Herrscher dort, Beherrschte hier. Befehl und Gehorsam, lediglich verschleiert durch Entertainment, vermeintliche Sozialität und Sicherheitsversprechen; Brave new World (Aldous Huxley) lässt ebenso grüßen wie The Circle (Dave Eggers). Eine Utopie für die einen, eine Dystopie für die anderen – und für Weiterbildner mindestens ein Anlass, einen fundamentalen Diskurs zu eröffnen.

Weiterbildner (Berater, Personaler, Trainer, Coaches), die ihre Arbeit nicht zuletzt aufgrund des Verbreitungsgrades als politisch-kulturelle Praxis begreifen, sollten endlich aufwachen aus der Trance und dem Opportunismus als Anpassung an diese Entwicklungen mitsamt den dazu gehörigen Gadgets, Tools, Plattformen und Netzwerken, mit den Micro-Learning und anderen schnipselartigen und game-basierten Lehr-/Lernformaten, die noch abseits lernpsychologischer/theoretischer Untersuchung liegen; Ähnliches gilt für Inhalte.

Die Begründungen für den Imperativ der Anpassung haben die Tenor: „Die Jungen denken und handeln eben ganz anders als die Immigrants, und um sie zu erreichen, müssen wir uns dem anpassen und das nutzen und so lehren, dass wir sie erreichen können.

Und das heißt eben: Wir müssen uns, Weiterbildung, Lehr-Lernkontexte neu erfinden und uns dabei an dem orientieren, womit die Jungen aufgewachsen sind und was sie gut finden: von den Geräten über e-, micro-, mobile-learning, Verknüpfung mit Audiovisuellem bis zu Gamification und in der Logik von MOOCs hierarchie-, lehrerfreies, auf Selbstorganisation und Vernetzung setzendes Lernen.“ Dieses Mantra ist aus mehreren Gründen anzuzweifeln. Zu diesen gehört der Mangel einer Begründung dafür, wieso es gerade diese (vermeintlich neuen) Lehr-Lernformen sind, die Unternehmen, Organisationen, Gesellschaft zukunftsfähig machen soll – noch dazu in einem Umfeld, das konkurrierende, wenn nicht gar rivalisierende Modelle verteidigt (z.B. Asien, besonders China, Japan, Südkorea) und folglich in einem Umfeld, in dem auch diese konträren Bildungskulturen mindestens wirtschaftlich erfolgreich sind (nach heutigen Maßstäben).

Zudem ist bis dato keinesfalls erhärtet, wissenschaftlich unterlegt, belastbar, dass – pointiert gesprochen – Gamification, Games, mobile micro-learning sich als Lehr-Lernformen eignen, um Menschen in die Lage zu versetzen, wissend, reflektiert, differente Perspektiven berücksichtigend und Argumente zu ersinnen, Schlussfolgerungen durchzuführen, Entscheidungen zu treffen – und das auch noch allein. Kurz, inwiefern über Wissen zu verfügen, explizites Wissen und Können parat zu haben, selbst Durchdachtes in eine Diskussion einzubringen und eigene Entscheidungen zu fällen – nach Maßgabe des vorher Gesagten, inwiefern das also gefördert wird durch Spiel- und andere Digitalsozialisation, steht durchaus in Zweifel. Solange Weiterbildner sich noch Kernfacetten von Aufklärung und Moderne verpflichtet fühlen, sollten sie ihren Opportunismus aufgeben zu Gunsten einer verantwortbaren Kombination aus Opposition (etwa: Auf das Selbstdenken kommt es noch immer an!“) und Opportunismus (Unter bestimmten Bedingungen können gamifizierte Anwendungen hilfreich sein.“).

Ich sehe Weiterbildner (u.a.) in besonderer Verantwortung, weil sie – im Gegensatz zu ihrem gegenwärtigen lämmerhaften Hinterherlaufen - bildungspolitisches Gewicht auch in die andere Richtung, als Avantgarde haben können. (Man denke an die Reformpädagogik des 17. Und 18. Jahrhunderts.).

Die Wirkung von Bildung/Weiterbildung strahlt in die Gesellschaft hinein, weil auch Weiterbildner (nicht nur Kindergärtner, religiöse Milieus, Pfadfinder u.ä., primärschulische Sozialisation etc.) mit Personen und Gruppen arbeiten. In dieser Arbeit setzen sie Akzente, definieren Inhalte und Methoden und wirken folglich über den Lehr-Lernkontext hinaus prägend.

Deshalb gestalten Weiterbildner immer auch politisch: Sie eröffnen, fördern, be- oder verhindern Möglichkeiten bzw. Optionen. Bereits aus diesem Grund sollten Weiterbildner den Intellekt und Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen und stereotyp wiederholte und in der Regel nicht begründete Voreingenommenheiten überprüfen und ihnen widersprechen – mit dem Ziel, Weiterbildung auf belastbare Füße zu stellen und Korrekturen anzubringen, um zu Zukunftsfähigkeit (um ein populäres Wort zu nutzen) der Gesellschaft beizutragen.

Wie Künstliche Intelligenz und Roboter in der Pflege helfen können

am Montag, 16 August 2021.

Kann Künstliche Intelligenz bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen helfen? Die Anwendungsfelder sind vielfältig. Doch der Weg in die Praxis ist oft weit. Um viele ethische Fragen wird noch heftig gestritten.

Wie soll die Pflege der Zukunft aussehen? Angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung wächst nicht nur der Bedarf an geschulten Kräften, sondern auch an Innovationen. Kann Künstliche Intelligenz – KI – hier eine Rolle spielen? Und wie stellt man sicher, dass die Menschlichkeit erhalten bleibt?
Zur Einordnung muss man zunächst wissen, wovon hier die Rede ist. Denn um KI ranken sich viele Missverständnisse. Am Ende ist es der Versuch, menschliche Entscheidungen über Computer abzubilden, erklärt Professor Andreas Hein, ein Fachmann für Assistenzsysteme.
Schon seit einigen Jahren werde dies versucht. Und zwar, indem Regeln definiert und auf ein spezifisches Problem angewendet werden.
Das bedeutet mit Blick auf Medizin und Pflege: „Ärztinnen oder Pflegern wird etwas vorgeschlagen, was der Computer aus den Daten ableitet. Die finale Entscheidung trifft aber ein Mensch“, sagt der Direktor des Departments für Versorgungsforschung an der Universität Oldenburg.
In der ambulanten Pflege finde KI bereits Anwendung, etwa in der Routenplanung. Hier werden zum Beispiel anhand von Fahrtzeiten oder Präferenzen der Patientinnen und Patienten Touren geplant.
„Da geht es um relativ komplexe Berechnungsprobleme, in denen der Mensch nicht gut ist“, sagt Hein.

„Ohne Daten keine KI“
Seit einigen Jahren dominieren dem Forscher zufolge in der KI Verfahren, die es Maschinen ermöglichen, mit Daten zu lernen. „Hier werden vorab keine Regeln festgelegt, sondern die Regeln werden aus Daten extrahiert“, erklärt Hein.
Damit das gut klappt, müssen die Daten gut sein: Man müsse die Entscheidungsgrundlagen kennen und die Entscheidungen, die auf deren Basis getroffen wurden.
Der Professor nennt ein Beispiel: So können in der Radiologie mit archivierten Computertomographie-Bildern und daraus gestellten Diagnosen Systeme trainiert werden.

Das einzige Problem: In der Pflege gibt es solche Daten bislang nicht. Das sei gerade erst im Aufbau, so Hein.
„Ohne Daten keine KI“, fasst die Pflegewissenschaftlerin Karin Wolf-Ostermann zusammen. Die Professorin leitet die Abteilung für Pflegewissenschaftliche Versorgungsforschung an der Uni Bremen.
Gerade die Dokumentation sei eines der großen KI-Zukunftsthemen, meint Andreas Hein. Pflegekräfte verbrächten damit 30 bis 50 Prozent ihrer Zeit. Könnten sie das schneller erledigen, bliebe mehr Zeit für die Arbeit am Menschen.
„Wir glauben, dass wir hier noch mehr Daten werden einspeisen müssen, um mit Hilfe von KI die Dokumentation unterstützen zu können“, sagt der Experte.

Viele Anwendungsmöglichkeiten, wenig Verbreitung
Das Thema KI in der Pflege nehme gerade Fahrt auf, sagt Karin Wolf-Ostermann. Am Pflegeinnovationszentrum, einem interdisziplinären Forschungsprojekt, untersucht sie mit Andreas Hein und vielen weiteren Fachleuten, welche neuen Technologien für die Pflege relevant werden könnten. Relativ weit entwickelte Produkte werden in angeschlossenen Pflegepraxiszentren auf ihre Alltagstauglichkeit und Wirksamkeit geprüft.
Die Anwendungsfelder für KI in der Pflege seien ein „bunter Mix“, sagt Wolf-Ostermann: Vom Monitoring des Gesundheitsstatus oder der Aktivitäten von Pflegebedürftigen, über Alarmmanagement und Erkennung von Stürzen bis hin zur Dienst- oder Medikationsplanung. In der Breite finde bisher aber kaum eine Anwendung ihre Verwendung.
Auch die soziale Unterstützung, Interaktion und Aktivierung gehören zu KI-Anwendungen dazu – geistig und körperlich. Das kann bei der Betreuung von Menschen mit Demenz hilfreich sein, obgleich es aus ethischer Sicht umstritten ist, wie Andreas Hein sagt.

So bestehe zum Beispiel beim Einsatz tierähnlicher Roboter die Gefahr, dass durch technischen Ersatz die notwendige Zuwendung und der Umgang zwischen dem Demenzkranken und der Pflegekraft reduziert werde.
Hein nennt jedoch auch Studien, wonach kurzfristige positive Wirkungen erreicht werden könnten. Allerdings nur, wenn die Roboter gut in den Pflegealltag eingebunden werden.
Zunehmend werde ein spielerischer Ansatz gewählt, sagt Wolf-Ostermann. Eine Erfindung aus den Niederlanden zum Beispiel lässt Demenzpatientinnen und -patienten um einen Tisch Platz nehmen, wo sie mittels Lichtprojektionen etwa Blumen zum Blühen bringen. Das System erkennt, wo ihre Hände sind und wie sie diese bewegen.

Roboter mit KI helfen beim Umlagern
In Robotern, die beim Umlagern von Patienten helfen, steckt heutzutage ebenfalls Künstliche Intelligenz. Hier sei es wichtig, dass erfasst wird: Was möchte die Pflegekraft gerade tun, aber auch, was die Sensorik am Bett und der Pflegebedürftige zurückmelden, wie Andreas Hein beschreibt. Der Erfolg steht und fällt eben mit Daten.
Technik und neue Technologien seien heute kaum mehr aus der Pflege wegzudenken, sagt Pflegewissenschaftlerin Wolf-Ostermann. Man wisse aus eigenen Studien auch: Die Aufgeschlossenheit der Pflegenden gegenüber neuen Techniken sei prinzipiell hoch.

Gestaltungsspielräume sollten aus der Pflege heraus aktiv genutzt werden, sagt sie, indem rechtzeitig eine breite Auseinandersetzung mit technologischen Innovationen stattfinde. Diese müsse offen geführt werden – „sowohl mit Blick auf Möglichkeiten als auch Risiken“.

Der Mensch im Mittelpunkt
Einig sind sich die Forschenden darin, dass der Mensch weiter im Mittelpunkt stehen wird. Es gebe Bereiche, in denen der Einsatz von Künstlicher Intelligenz Sinn mache und andere, in denen er etwa aus ethischen Gründen besser unterbleibe, sagt Andreas Hein.
„Es kann keinesfalls darum gehen, Pflegekräfte zu ersetzen, sondern darum, sie zu unterstützen“, sagt Karin Wolf-Ostermann. Soziale Kompetenz könne nicht durch KI ersetzt werden.


Künstliche Intelligenz und Empathie. Vom Leben mit Emotionserkennung, Sexrobotern & Co.
Misselhorn, Catrin
Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag
Ditzingen 2021
ISBN-10 ‏ : ‎ 3150140471
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3150140475
Rez. Dr. Regina Mahlmann

Die Autorin, Fachfrau für Maschinenethik, greift in dem schmalen Band (Reihe: Was bedeutet das alles?) ein aktuelles und brisantes, weil die Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens betreffendes Thema auf: Künstliche und Emotionale Intelligenz, KI und EI oder Affective Computing (AI) und damit insbesondere vermeintlich empathische Roboter. Sie bietet einen knappen, summarischen Ein- und Überblick mit Begriffsskizzen: Verständnisweisen, Funktionsbedingungen, Programmierungsaspekten von Robotern mit harter Materie und solchen mit weicher Materie bis zu Sexrobotern mit Scheinhaut, Sensoren und einem Repertoire empathischer Dialogfähigkeit.

Zudem beschreibt sie das Spektrum an Leistbarkeit von Empathie anhand eines von ihr definierten Empathiebegriffs als Basis für die Einschätzung, ob und – scheinbar -inwiefern Maschinen empathiefähig sein können sowie für die Gegenüberstellung menschlicher und maschineller Empathie, einschließlich bereits bediente Anwendungsfelder, etwa in der Pflege, bei Autismus, in der Psychotherapie – stets mit Hinweisen auf technische Leistung, die an menschlichen Bedürfnissen gemessen wird.

Im Zentrum der Diskussion und Beurteilung steht nicht das Als-ob empathischen Empfindens, also Verhalten, sondern das wirkliche Empfinden von Empathie und daraus resultierender Reaktionen und Initiativen seitens der Maschinen. Letztere spricht Catrin Misselhorn Robotern grundsätzlich ab, was nicht zuletzt ein Ausfluss ihrer Definition bzw. der Festlegung ist, dass ein empathisches Verhalten nicht ausreiche, um Robotern Empathiefähigkeit zuzusprechen. (Was die Autorin nicht davon abhält, ethische Rechte auch Maschinen zuzusprechen, etwa bezüglich der Frage, ob es erlaubt sein soll, Robotern Schmerz zuzufügen oder sie gar zu vergewaltigen. Dabei weitet sie die Betrachtung aus auf psychologische Wirkungen, unter der Annahme, das menschliches Verhalten Robotern gegenüber auf Menschen übertragen wird.)

Es finden sich durchaus debattierwürdige Annahmen und Schlussfolgerungen in dem Buch. Dies betrifft grundlegend den Empathiebegriff, insbesondere die These von der ermöglichenden Funktion moralischen Empfindens und Verhaltens durch Empathie, auch wenn sie konzediert, dass diese Annahme als notwendige Bedingung zumindest für die Ausbildung moralischen Verhaltens nicht zwingend ist. Ihre Zuschreibung fungiert als Schlüssel ihrer Argumentationen und Konklusionen, gewinnt an Gewicht, weil sie jene Schlussfolgerung vorbereitet, die in den Kapiteln 6 und 7 („Arme Alexa! – Empathie mit Robotern und virtuellen Agenten“ sowie „Freundschaft, Liebe und Sex mit Robotern“) dargestellt werden und in denen Catrin Misselhorn sowohl sozialkritisch, feministisch unterfüttert, als auch moral- und sozialphilosophisch argumentiert, vor allem gegen einen verbreiteten Einsatz von Sexrobotern speziell und KI-Robotern generell, soweit sie in allen Lebensbereichen eingesetzt werden. Denn: Ihre Sorge gilt der Gefahr einer durchgängigen Verdinglichung von sich selbst und anderen Menschen, die das Fundament eines sozialliberalen Zusammenlebens zerstöre, ein Leben in einer Demokratie, in der Menschen sich nicht nach Maschinen (Algorithmen) richten, sondern diese nach den Menschen. Diese Überlegung erhält Nahrung insbesondere durch die Ausführungen der inzwischen vielfach belegten Tatsache, dass sich Menschen sehr leicht dazu verführen lassen, mit Maschinen Mitleid zu haben, ihnen immerwährende Geduld zuzusprechen, auch Einfühlsamkeit und Anteilnahme bis hin zu dem Eingeständnis, Maschinen vorzuziehen.

Ein sehr lesenswerter Band, der sowohl informiert als auch nachdenklich macht und für jene, die sich in die Materie vertiefen möchten, Literaturhinweise anbietet.

 

 

„Geisterspiele & Führen. Eine Kurzreflexion“

am Montag, 01 Februar 2021.

„Geisterspiele & Führen. Eine Kurzreflexion“ auf PT-Magazin.de

„Ist doch egal, warum – Hauptsache, es funktioniert!“

am Montag, 09 April 2018.

„Ist doch egal, warum – Hauptsache, es funktioniert!“„Ist doch egal, warum – Hauptsache, es funktioniert!“
Dies ist das Zitat eines Teenagers aus einer Diskussion über die Perfektion algorithmischer Entscheidungen eines so genannten selbst fahrenden Autos. 

Dazu ein „Blitzlicht“: einige spontane Assoziationen, die auch für Führung und Zusammenarbeit von und in Unternehmen/ Organisationen bedeutsam sind.

Die lebendige Diskussion mit dem wachen und temperamentvollen Heranwachsenden zeigt eine Haltung, die verbreitet ist – keinesfalls nur bei Jüngeren, sondern auch und gerade bei Anhängern von Big Data und des Abgesangs von Theorie und damit dem Fragen nach dem Warum, Woher, kurz: nach Erklärung und Verstehen (Nachvollziehen). 

Die aus der Fangemeinde der Digitaltechnologie populäre Überzeugung, Theorie, Kausalerklärungen, Herleitungen nicht mehr zu benötigen, weil datenbasiert Muster erkannt werden können und es ausreiche, auf dieser phänomenalen, empirischen, positivistischen Ebene zu arbeiten, rechtfertigt sich durch empirische Datenvolumina, die die menschliche Verarbeitungskapazität übersteigen und in zahlreichen Fällen dafür sorgen, „dass es funktioniert“. Und das tut es ja auch in durchaus bemerkenswertem Ausmaß.

Allerdings verkennen die Anhänger dieser positivistischen Haltung unter anderem dies: dass inzwischen insbesondere Forscher im Bereich neuronaler Netzwerke/ Künstliche Intelligenz, Vernetzung von Maschinen (IoT) sowie von Mensch und Maschine, kurz: Forscher, die mit selbst lernenden Systemen arbeiten, zugeben, nicht zu verstehen, wie diese zu ihren Ergebnissen gelangen. Die Systeme werden als „Black Boxes“ bezeichnet.

Wer nicht nachvollziehen kann, wie, durch welche Operationen (und inhaltliche, semantische, normative Inputs) ein System zu seinen Resultaten (inklusiv Handlungen, Handlungsempfehlungen) gelangt, ist auch nicht in der Lage:

  • Fehler (insbesondere jene, die zunächst latent bleiben, sich via Skalierung verstärken und irgendwann und irgendwo manifest werden, zeitlich, örtlich und wirkungsdynamisch überraschend auftauchen) zu erkennen und ihren Werdegang zu rekonstruieren
  • systematisch-zielorientiert zu intervenieren
  • systematisch weiter zu entwickeln.

Pointiert formuliert, passiert gerade dies: Wir wissen zwar nicht, wie genau das System arbeitet, aber solange es so funktioniert, wie wir es wollen, machen wir so weiter (und nähren dadurch u.U. Fehler, die nur noch nicht bemerkt wurden, aber bei Analyse/Verstehen aufgedeckt werden könnten). Inkludiert ist: Solange das System so arbeitet, wie wir es für richtig halten, arbeitet es korrekt. Per Kurzschluss: Der Computer hat recht. Der Teenager rief in seiner Begeisterung zum selbst fahrenden Auto aus: „Der Computer entscheidet immer besser als der Mensch!“ 

Wir vertrauen in etwas, das wir nicht verstehen. Das ist eine durchaus religiös zu nennende Haltung; denn es ist Glaube, nicht Wissen und Verstehen.

Je weiter diese Haltung um sich greift, desto weniger werden jene Fähigkeiten des Menschen trainiert, die logische und kausale Kategorien, die Induktion, Deduktion und andere diskursive, intellektuelle Kategorien bedienen und ausüben können, geschweige denn, komplexe Logik wie das Denken in Wechselwirkungen, in unterschiedlichen Wirkungsgraden von Variablen etc.. (Hier ist die Literatur von Dietrich Dörner noch immer sehr instruktiv.)

Diese unintellektuelle Haltung, die sich auf das verlässt, was offenkundig passiert und daran anknüpft, ist das Gegenteil einer Haltung, die Verstehen und auf Verstehen aufbauen will. Ohne sie allerdings wäre die kulturelle Evolution, zu der selbstredend auch Technologie und Technik gehören, nicht möglich gewesen. Und nur mit ihr ist es möglich, das Zepter in der Hand zu halten: systematisch zu entscheiden, was aus welchen Gründen und aufgrund welcher Indizien und Überlegungen (!) was (weiter) entwickelt, verändert, entschieden werden soll. 

Exakt dies aber benötigen (auch) Unternehmen: Menschen, deren Ehrgeiz es ist, „Dinge“ (Zusammenhänge, Prozesse, das Entstehen von Resultaten, Entstehungszusammenhänge, Entscheidungsgründe, Verwendungs-, Wirkungs(ko)relationen) zu verstehen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass alle Beteiligten wissen, was sie warum wozu, aufgrund von was mit welchem Ziel tun bzw. unterlassen (sollen, wollen, werden).

Einfacher gesagt, geht es um die Erhaltung dessen, was den Menschen gegenüber der intelligentesten Maschine (noch) auszeichnet: Die Fertigkeit, bewusst und intendiert zu agieren, auf Verstehen aufbauend zu handeln (dazu gehört auch das viel gerühmte kreative, innovative Denken und Handeln). 

Auf diese Fertigkeit können Organisationen/ Unternehmen so lange nicht verzichten, wie Menschen noch benötigt werden - „oberhalb“ exekutiver Tätigkeiten maschineller Befehle. 

Aus diesem Grund sollten (auch) Unternehmen im Rahmen ihrer Curricula der Fort-, Weiter-, Ausbildung sowie im alltäglichen Arbeiten Sorge tragen dafür, dass die Akteure immer wieder aufgefordert und gefördert werden, verstehensorientiert zu handeln. Sämtliche Konzepte rund um agiles, demokratisiertes, verantwortungsvolles Führen und Kooperieren benötigen diese Haltung und entsprechende Praktiken. 

Ist doch egal, warum – Hauptsache es funktioniert! sollte bestenfalls improvisatorisch verstanden werden und einer anderen Haltung Platz machen: Ist doch nötig, zu wissen, warum – Hauptsache wir verstehen, wieso es funktioniert!

„Seht her, die nackte Seele!“ – Die Zeit vom 6. März 2014 von Bernhard Pörksen

am Montag, 07 April 2014.

Sehr lesens- und vor allem nachdenkenswert finde ich den Artikel: „Seht her, die nackte Seele!“ In Die Zeit vom 6.3.14 von Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft Uni Tübingen. Zusammen mit Hanne Detel schrieb er das Buch: „Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter.“ Die folgenden Zitate sind dem genannten Artikel entnommen.

„In jüngster Zeit ist in den Qualitätsmedien ein Genre entstanden, das den Journalismus beschädigt: Man versucht auf investigative Weise, dem Charakter von Politikern und Prominenten auf die Schliche zu kommen.“ Der Artikel ist in kritischer Absicht geschrieben und beklagt eine Reduktion von Komplexität sowie – damit verknüpft – einen Wechsel von der politischen in die persönliche Dimension, den „Charakter“.

Diese Personalisierung häuft sich nicht nur im politisch-gesellschaftlichen, sondern in einem zuweilen beängstigenden Maße auch in der Wirtschaftswelt. Personalisierung in Unternehmen ist im sogenannten postheroischen Zeitalter gang und gäbe. Da sind nicht nur dramatisierende und personalisierende Zuschreibungen zu nennen, die einen „Topmanager“ alleinverantwortlich für Geschehnisse in Unternehmen machen. Auch der Führungsdiskurs weist diese Vereinseitigung und Vereinfachung auf, insbesondere transportiert in Begriffen wie „Narzissmus“ (als mehr oder weniger laienhafte psycho-pathologisierende Diagnose, von der angeblich ausschließlich Führungspersonen betroffen seien) und „transformationale“ wie „charismatische“ Führung (als wünschens- und erstrebenswert in dem hiesigen emotionalisierten Umfeld gefordert).

Bernhard Pörksen verweist, wenn auch in einem anderen Kontext, auf eine Folgewirkung von Personalisierung und charakterologischen Zuschreibung hin: auf eine Verflachung intellektueller Anstrengung, einen Mangel an Differenzierung im Denken, Reden, Schreiben – und damit auf ein Defizit, das gerade in Unternehmen um sich greift: die Abnahme der Bereitschaft, sich Kompliziertem, geschweige denn Komplexem primär sachlich, inhaltlich zu widmen, und von Personen in einem ersten auf Verstehen ausgerichteten Anlauf abzusehen. (In praxi wird zwar eine „Fehlerkultur“ gefordert, die genau diesem Vorzeichen folgt; dennoch wird in der Regel zuallererst Ausschau nach sogenannten Schuldigen gehalten.)

Das Phänomen, um das es geht: „Ad-hoc-Diagnosen“ dank des moralisierenden, skandalisierenden und auf die Person zielenden Kurz- und Fehlschlusses: Von einer Handlung, z.B. Steuerhinterziehung oder Ablehnung eines Mitarbeiterwunsches, wird auf den Charakter der Person geschlossen. Der in seiner Tragweite im Wirtschaftssystem ausgiebig von Phil Rosenzweig untersuchte und in der Psychologie wohl bekannte Halo-Effekt lässt grüßen.

„Im Eifer solcher Ad-hoc-Diagnosen werden die Konturen eines Charaktertest-Journalismus sichtbar, der die eigenen Übergriffe als dringend gebotenen Entlarvungsauftrag maskiert und möglichst missgünstig interpretierte Details zum schwerwiegenden Persönlichkeitsbefund umdeutet. Es handelt sich um einen publizistischen Enthemmungsmechanismus und ein Genre der gezielten Personenkritik, die die Matrix zur Bewertung des Politischen zugunsten des Persönlichen und Moralischen hinter sich gelassen hat und letztlich auf die …. pseudoinvestigative Ausleuchtung des inneren Menschen zielt. Man will, gestützt vom Glauben an die eigene Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis, vor aller Augen ein Charaktergeheimnis lüften.“ Eben dies geschieht auch in Unternehmen. Die Akteure des engsten Kreises: Externe Berater, Personaler, Mitarbeitende – flankiert von Journalisten, die sich der mindestens einseitigen und vorzugsweise gefühlten Betroffenheitspsychologik, dem gegenwärtigen Diktum moralischer, sozialer, psychosomatischer etc. Korrektheit (soziale Erwünschtheit) anpassen und mehrheitlich unkritisch auf insbesondere Führungspersonen eindreschen, die gemäß Vereinfachung, Personalisierung als Urheber aller Missstände auserkoren sind. Und das alles im Habitus des bestenfalls laienpsychologischen „Ich durchschaue das“. Die Hybris ist auf der Seite schlichter Gemüter.

Bernhard Pörksen weiter: „Am Ende gilt es, eine womöglich widersprüchliche Gesamtpersönlichkeit auf die Essenz zusammenschrumpfen zu lassen und den Wesenskern eines Menschen … in der Öffentlichkeit zu präsentieren: … Die gesamte Enthüllungsidee wirkt nicht nur entschieden unpolitisch, sondern basiert auf einem letztlich vormodernen Rollen- und Selbstverständnis, weil doch vorausgesetzt wird, dass Menschen überhaupt einen festen, ihr Handeln dominierenden Wesenskern besitzen, nicht aber vielfältig und widersprüchlich sind, auf den unterschiedlichsten Bühnen in unterschiedlichster Weise unterwegs….“ Das vormoderne Momentum liegt meines Erachtens vor allem darin, dem (von mir aus: anthropologisch, neuerdings neurobiologisch begründbaren) Bedürfnis nach simplen Erklärungen, Zuschreibungen, nach eindeutigen Beziehungen und Verhältnissen Ausschau zu halten und daran festzuhalten auch dann, wenn doch evident ist, dass Kompliziertes, geschweige denn, Komplexes nicht auf das Eine reduzierbar ist. Ich betone: Exakt diese drastische Reduktion auf a) Eines, b) auf Person, dominiert in Unternehmen. Man mag sagen: Die Praxis vereinfacht notwendig. Selbst wenn das so ist: Bezeichnend (und, mit Verlaub, beschämend) ist, dass das Reden, Schreiben, Beraten in Sachen Führung mit den oben genannten Konzepten sich unbeeindruckt zeigt von dem, was ja auch zu finden ist: das Nachdenken, Reden, Schreiben über Führung in systemtheoretischen, in (arbeits-, organisations-, milieu-) soziologischen Begriffen und/ oder „postheroisch“ in sogenannt emanzipatorischer Absicht, das Partizipative hervorhebend (dazu gehört dann allerdings auch das Anziehen der disziplinarischen Anforderungen an sich selbst: auch und gerade die Generationen ab 1980 anvisierend). Kurz und ungut: Diagnose und Wirkungen in Gesellschaft und Unternehmen unterliegen einer Psycho-Logik, dem unzulässigen Schluss von einer Beobachtung bzw. dem Wissen um einen Aspekt einer Person auf die gesamte Person (Rollenidentität), gar Persönlichkeit.

Noch einmal Bernhard Pörksen: „Warum ist die Charakterfrage heute so schrecklich wichtig? Der Charakter ist, wenn Ideologien und politische Programme als gedankliche Geländer zur Verhaltensprognose wegbrechen und Sachfragen zu komplex und irgendwie auch zu anstrengend erscheinen, wenn sich die Grenzen des Öffentlichen und des Privaten ohnehin verschieben und man schnell einen neuen Dreh in einer Phase peinigender Nachrichtenarmut braucht, eine Art Ersatz- und Universalschlüssel zur Ordnung der Welt und zur Einschätzung der in ihr handelnden Personen. Man kann dann – in einem intellektuell fragwürdigen, aber kognitiv attraktiven Verfahren der allmählichen Generalisierung – immer weiter hochrechnen: Aus dem vergangenen privaten Verhalten wird so die Prognose über das zukünftige politische Handeln …Und es gibt eine unmittelbar einleuchtende Geschichte, anfassbar und konkret …Charakterdeutungen sind narrationsfähig …Charakterdeutungen passen zu einer von psychologischen Sprachspielen und dem Authentizitätsphantasma faszinierten Kultur. Sie erzeugen – zumindest dem Anschein nach – Gewissheit in diesem … Universum der Unübersichtlichkeit, eine binäre Scheinklarheit, die die Widersprüchlichkeit des Menschen auf eine paradox psychologieferne Weise verleugnet, ja im Extremfall sein unvermeidlich changierendes Wesen selbst skandalisiert und ihn zum Heuchler stempelt. Aber der Preis ist hoch, weil der Sound einer kleinlichen Diffamierung den Journalismus selbst unsympathisch macht und weil auf Dauer ohnehin niemand genügen kann. Und weil sich alle, auch die, die gerade noch irgendwie davongekommen oder bislang unentdeckt geblieben sind, in einer derart grell ausgeleuchteten Welt nur geduckt fortbewegen können oder doch zumindest permanent an der Abdichtung der  Fassade arbeiten müssen, vielleicht ängstlich und womöglich raffiniert, mit Sicherheit jedoch unfrei.“

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer einem bedauernden Nicken. Exakt das Beschriebene kennt nicht nur der öffentliche Raum, sondern geschieht auch in Organisationen/ Unternehmen. Das Heikle (für demokratisch organisierte Systeme) liegt unter anderem in der sukzessiven Banalisierung und Emotionalisierung von Wirklichkeit(skonstruktionen) und in dem darauf bezogenen Denken und Handeln. Martha Nussbaum, etwa, zeigt in ihren neuesten Büchern eindrücklich, wieso Demokratiefähigkeit von Menschen zu zerbröseln scheint. (Und „The Circle“ demonstriert, wohin das naive Pathos von Einfachheit, Wohlfühlwelt, Fremdkontrolle unter dem Label Sicherheit und Teilen mündet: in eine Diktatur. Evgeny Morozov und Jaron Lanier sekundieren hier uneingeschränkt.

Ferner, um einen weiteren Ausfluss anzusprechen, feiert – ob als Selbstschutz oder als Verfechter hygienischer Reinheit von Menschen und Welt - ein vorauseilender Gehorsam fröhliche Urständ. Er ist inzwischen salonfähig, mehr noch: gefordert, und zwar aus Furcht und damit als Anpassung an eine vor allem dank der blitzartig raschen Verbreitbarkeit von Nachrichten, vorzugsweise via Social Media (shitstorm als Negativvariante) vertretenen Ideologie und Selbstgerechtigkeit seitens einer technologische Optionen nutzenden Minderheit, die zur Mehrheit, mindestens zu einem erheblichen, im wörtlichen Sinn maß-gebenden Einflussfaktor für Personen und Gruppen ausgewachsen ist, die ihrerseits – siehe oben – selbst demokratischen Werten Hohn sprechende Urteile (Beurteilungen) an- und vorwegnehmen, als Tatsache und Maßstab postieren und darauf reagieren. „Der Mann mit dem Bild“ von Paul Watzlawik veranschaulicht amüsant, was dieser Kreislauf der Selbstbezüglichkeit und das Verwechseln von Annahmen und Vorstellungen mit Realität in Gang setzt.

Vorauseilender und auf Furcht vor Denunziation beruhender Opportunismus als Normalität – zusammen mit Halo-Effekt/Personalisierung und Monokausalität ein explosives Gemisch, dessen Preis hoch ausfällt: Er stellt die nachhaltige Demokratiefertigkeit von Bürgern bzw. von Führenden und Geführten in Unternehmen in Zweifel – und provoziert Fragen, die noch lauter und von noch viel mehr Persönlichkeiten formuliert und kontrovers diskutiert werden müssen, als es bisher der Fall ist.

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Dr. Regina Mahlmann
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